erschienen in der PAZ
Von Dr. Manuel Ruoff
Beim Wiener Kongress vor 200 Jahren musste Staatskanzler Karl August von Hardenberg etliche Kröten schlucken
Am 12. Oktober 1815 ratifizierte Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg mit seiner Unterschrift die Ergebnisse des Wiener Kongresses für Preußen. Dessen Ergebnisse haben sich rückwirkend als ein Schritt in Richtung der kleindeutschen Lösung der deutschen Frage unter Preußens Führung erwiesen. Dieses ist umso bemerkenswerter, als die damals noch kleinste der fünf europäischen Großmächte auf dem Kongress mehr Objekt denn Subjekt, eher Amboss als Hammer gewesen war.
Das lag zum einen daran, dass die Verhandlungsführer Preußens, der Staatskanzler und sein König Friedrich Wilhelm III., ihren Pendants aufseiten der anderen Großmächte, dem britischen Außenminister Robert Stewart Viscount Castlereagh, dem österreichischen Staatskanzler Clemens Wenceslaus Nepomuk Lothar Fürst von Metternich-Winneburg zu Beilstein, dem französischen Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord und dem russischen Zaren Alexander I. an Willenskraft und intellektueller Leistungsfähigkeit unterlegen waren. Der Reformer Hardenberg hatte, mittlerweile in der Mitte des siebten Lebensjahrzehnts stehend, den Höhepunkt seiner Leistungskraft überschritten. Und an Friedrich Wilhelm III. war das Beste seine Ehefrau Luise, und die war bereits 1810 verstorben.
Zum anderen lag das aber auch daran, dass der Staats- und der Regierungschef unterschiedliche Bündnisse suchten. Beim primären Verhandlungsziel Preußens herrschte immerhin Konsens. Das war die Einverleibung Sachsens, ein preußischer Traum aus den Zeiten von Friedrich Wilhelms Großonkel Friedrich dem Großen. Um Castlereaghs und Metternichs Zustimmung zu dieser Annexion zu gewinnen, war Hardenberg bereit, den von diesen geforderten Preis zu zahlen: die preußische Unterstützung der beiden Gleichgewichtspolitiker in deren Widerstand gegen Alexanders Vordringen nach Mitteleuropa durch die Einverleibung Polens. Friedrich Wilhelm jedoch, der sich erst wenige Jahre zuvor am französischen Überfall auf Russland beteiligt hatte, hielt diese Unterstützung allerdings für unvereinbar mit seiner Freundschaft zu Alexander und zwang Hardenberg mitten im Kongress zu einem Kurswechsel um 180 Grad.
Ein Ergebnis war, dass der vom Preußenkönig vorbehaltlos unterstützte Zar fast ganz Polen erhielt. Den Preis musste Preußen zahlen. Als Retourkutsche für den preußischen Seitenwechsel verhinderten Metternich und Castlereagh – unterstützt von Talleyrand – die von Preußen gewünschte Totalannexion Sachsens. Der mit dem französischen König verwandte Sachsenkönig kam mit Gebietsabtretungen an den preußischen Nachbarn davon. Als Entschädigung für den erzwungenen Verzicht auf Sachsens Einverleibung erhielt Preußen das Rheinland und Westfalen.
Das war von Metternich clever überlegt. Da das nun größtenteils preußische linksrheinische Deutschland von Paris traditionell als Teil Frankreichs betrachtet wird, schien ein französisch-preußisches Bündnis gegen Österreich langfristig abgewehrt zu sein. Und da zu erwarten war, dass Preußen fortan den territorialen Brückenschlag zwischen dem größtenteils ostelbischen Mutterland und der neuen großen Exklave am Rhein versuchen würde, war von den dazwischen liegenden deutschen Staaten zu erwarten, dass sie bei der zweiten deutschen Großmacht Schutz vor einem derartigen preußischen Brückenschlag suchen würden und somit in Österreichs Arme getrieben wurden.
Abschließend seien drei Gründe genannt, warum Metternich ungeachtet seiner klugen Regie auf dem Wiener Kongress Bismarcks späterer Reichseinigung in die Hände gespielt hat. Preußen wuchs infolge des Kongresses nach Deutschland hinein. Es trat den überwiegenden Teil seiner polnischen Gebiete an den Zaren ab und reichte nun – wenn auch mit einer großen territorialen Unterbrechung – von Ostpreußen an der Grenze zur östlichen Flügelmacht Russland bis zum Saarland an der Grenze zur westlichen Flügelmacht Frankreich. Mit Preußens Übernahme der sogenannten Wacht am Rhein verschlechterten sich zwar, wie von Metternich geplant, die preußisch-französischen Beziehungen, es stieg aber auch Preußens Ansehen in der deutschen Nationalbewegung. Mit seiner neuen großen Exklave im Westen erhielt Preußen schließlich auch das Ruhrgebiet. Mit ihm gelang Preußen in den nachfolgenden Jahrzehnten der rasante Aufstieg vom Agrar- zum Industriestaat und damit die wirtschaftliche Überflügelung Österreichs, der die militärische folgte. Diese enorme Bedeutung des Ruhrgebietes hat Metternich nicht vorausgesehen, konnte er wohl auch nicht.
Manuel Ruoff