Dieser Artikel erschien am 19. Juli 2015 auf der Geschichtsseite der PAZ
Von Uta Buhr
Große Ereignisse werfen ihr Schatten voraus. Das idyllische Städtchen Ciano d’Enza in der Emilia Romagna bereitet sich seit Monaten auf ein Fest vor, an dem sich ein Großteil seiner viertausend Einwohner aktiv beteiligt. Da werden mittelalterliche Kostüme für die ganze Familie geschneidert und Ritterspiele hoch zu Ross geprobt. „All dies findet zu Ehren unserer Ahnherrin Mathilde von Canossa statt“, erklärt Giovanni, einer der Organisatoren. „Am 24. Juli im Jahre des Heils 1115 verstarb eine der berühmtesten Frauengestalten des Mittelalters mit 69 Jahren.“
Wer war diese Markgräfin, die auch noch 900Jahre nach ihrem Tode von sich reden macht? Über den Ort ihrer Geburt 1046 streiten sich heute noch die Gelehrten. Manche bringen Lucca, Canossa oder Ferrara ins Spiel. Andere plädieren für die lombardische Stadt Mantua. Fest steht, dass Mathilde die Tochter des Bonifaz – Herrscher von Canossa und Tuszien – und dessen Ehefrau Beatrix von Luxemburg war und mit den zwei älteren Geschwistern aufwuchs.
Bereits in ihrer Adoleszenz wurde Mathilde in die Pflicht genommen. Mario Bernabei, Publizist, Journalist und intimer Kenner der Vita Mathildes, beschreibt ihre Position innerhalb eines „weitreichenden heterogenen Systems“ als sehr verantwortungsvoll, zumal diese mit vielen gefährlichen Reisen verbunden war. Doch die junge Frau meisterte all diese Herausforderungen mit Charme und Verstand. Bereits in ihrer Kindheit unterschied sich Mathilde von anderen Sprösslingen adliger Häuser durch ihren Wissensdurst. Sie konnte lesen und schreiben – seinerzeit durchaus keine Selbstverständlichkeit – sprach Latein, die lingua franca des Mittelalters, und war sogar des Lombardischen mächtig, dieser „klingenden spritzigen Sprache der Franken.“ Aufgrund ihrer herausragenden Bildung unterhielt die Markgräfin beste Kontakte zu den Herrschern jener Zeit. Auch von der Kurie in Rom wurde sie hoch geschätzt.
Der 25. Januar des Jahres 1077 rückte die trutzige Burg von Canossa ins Licht der Geschichte. An diesem bitter kalten Tag warf sich der Legende zufolge der deutsch-römische König Heinrich IV., barfuss und im härenen Gewand Papst Gregor VII. zu Füßen, um Vergebung für die Übertretung seiner Befugnisse und die Aufhebung des Kirchenbanns zu erbitten. Es ging um die Frage, wem das Recht auf die Einsetzung von Bischöfen zukomme, dem König oder dem Pontifex Maximus. Drei Tage soll der stolze 26jährige Salier im Vorhof der Burg ausgeharrt haben, bis Seine Heiligkeit sich seiner erbarmte und das Tor öffnete. Vorarbeit für dieses als „Investiturstreit“ in die Geschichtsbücher eingegangene hoch dramatische Ereignis hatte keine Geringere als Mathilde, die Burgherrin von Canossa, geleistet. Ohne ihre Vermittlung, so behaupten Historiker, wäre die Begegnung nie zustanden gekommen. Zu tief seien die beiden Parteien zerstritten gewesen. Heinrichs Verzichtserklärung erwies sich indes als diplomatischer Geniestreit, der seine Position festigte und ihm 1084 die Kaiserwürde einbrachte.
Die zwischen 939 und 988 erbaute Burg von Canossa wurde im Laufe ihrer Geschichte mehrmals schwer zerstört, teilweise restauriert und schließlich dem Verfall preisgegeben. Aber selbst die auf einem Bergkamm gelegene Ruine kündet auch heute noch von ihrer einstigen Größe. Ein Museum unterhalb des Hügels dokumentiert das Leben Mathildes und des legendären Bußgangs. Die zahlreichen, aus verschiedenen Epochen stammenden Bilder der Markgräfin stellen Mathilde als eine sehr schöne aristokratische Erscheinung dar. Ein großes düsteres Gemälde direkt über der Eingangstür zieht die Blicke der Besucher magisch an. Es zeigt einen heldenhaften barfüssigen Heinrich mit langen Locken vor dem eisenbeschlagenen Tor der Burg von Canossa. Im Hintergrund sind schemenhaft die Köpfe von Mathilde, Abt Hugo von Cluny und Königsmutter Adelhaid von Turin abgebildet. Eine Kopie soll gut sichtbar im Arbeitszimmer des Reichsgründers Otto von Bismarck gehangen haben. Es inspirierte den Fürsten zu seinem Diktum „ „Nach Canossa gehen wir nicht.“ Anlass für dieses geflügelte Wort, das sich bis heute in unserer Sprache erhalten hat, war die Ablehnung des deutschen Gesandten Kardinal Hohenlohe durch den Heiligen Stuhl. „Seien Sie unbesorgt“, lautete Bismarcks Botschaft 1872 vor dem Reichstag. „Nach Canossa gehen wir nicht. Weder körperlich noch geistig.“
Die auf dem Großen Burgberg bei Bad Harzburg errichtete 19 Meter hohe Canossa-Säule trägt seit 1877 diese Inschrift.
Mario Bernabei, der unterhalb der Burg einen Kiosk mit Büchern und Andenken betreibt, ist nach langen Recherchen über das Leben der Mathilde von Canossa immer noch fasziniert von ihrer Persönlichkeit. Sie war eine sehr einsame Frau, dabei ihrer Zeit weit voraus, resümiert er. Bernabei hat ein reich bebildertes, gut gegliedertes Buch über seine historische Lieblingsfigur verfasst. Manch Hobby-Historiker aus der Region hat sich ebenfalls mit der Vita dieser faszinierenden Frau beschäftigt. Dass Heinrich seiner Wohltäterin, „die ihm sozusagen den Kirchenbann von den Schultern nahm“, zeitlebens dankbar war, bestreitet Luigi P. vehement. Während seines zweiten Italienfeldzugs 1092 griff der inzwischen zum Kaiser gekrönte Heinrich Mathildes Truppen an, erlitt jedoch eine empfindliche Niederlage. Und auch der rührseligen Geschichte vom barfüssigen Heinrich im härenen Gewand, der Gregor VII. unter Tränen um Vergebung bat, erteilt er eine Absage. Wissenschaftler fanden bereits vor langer Zeit heraus, dass der Winter des Jahres 1077 ein ganz besonders strenger mit klirrender Kälte war. „Dem guten Heinrich wären die Füße abgefroren“, lacht er. „Wahrscheinlich ist er in einer Sänfte getragen worden und hat nur die letzten Meter zum Tor der Burg zu Fuß zurückgelegt.“ Aber Menschen lieben nun einmal Legenden, selbst wenn Experten deren Wahrheitsgehalt widerlegen. So wird Heinrich IV. am 24. Juli dieses Jahres in der Arena von Ciano d’Enza erneut vor dem Papst niederknien und ihn in Gegenwart der strahlenden Markgräfin von Canossa demütig um Vergebung bitten. Viva Mathilde!
Fotos: Uta Buhr