von Götz Egloff, Fotos: Hans Jörg Michel
Kommentar zur europäischen Erstaufführung von
„Ratgeber für den intelligenten Homosexuellen zu Kapitalismus und Sozialismus mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ von Tony Kushner
in der Inszenierung von Burkhard C. Kosminski am Nationaltheater Mannheim, 21. Januar 2012, Dramaturgie: Ingoh Brux. In Kooperation mit dem Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg.
In einer Zeit, die voll von Antworten auf nicht gestellte Fragen ist, haben wir es mit einem Abend zu tun, der die richtigen Fragen stellt. Was ein Menschenleben im real existierenden Kapitalismus wert ist, ist nur eine davon.Wir werden Zeuge eines Panoptikums allzu menschlicher Abgründe am Beispiel einer amerikanischen Großfamilie italienischer Herkunft. Ihre anarcho-kommunistischen Wurzeln reichen bis in die heutige Zeit und bilden eine Genealogie für die komplexe Gemengelage aus ideologischen, religiösen, sexuellen und ethischen Fragestellungen, die die Familienmitglieder umtreiben. Grundlegende Fragen nach Identität und Zugehörigkeit werden verhandelt. Der Entfremdungstopos wird in aktuelle postmoderne Lebenszusammenhänge transferiert; das Oszillieren zwischen Festhalten an und Aufgabe der transgenerationalen Vermächtnisse wird überlagert von radikaler Weltbefragung und unbändiger Lebensgier der Figuren (Brux).
Ein fulminantes Čechovsches Drama, zwar in mitunter mäßiger deutschsprachiger Fassung, doch gelungener Bearbeitung, mit exzellenten schauspielerischen Leistungen. Es hinterlässt auch Leerstellen – muss und soll es hinterlassen –, die einer Analyse zugeführt werden müssen. Wie findet Enkulturation, Sozialisation, Individuation statt? Fragen nach dem Verhältnis von Masse und Elite werden mit angedacht, wie auch innerpsychische Nähe-Distanz-Themen aufgeworfen werden. Zum besseren Verständnis könnte ein Freudscher Ansatz beitragen, den der kürzlich verstorbene Horst E. Richter vor 50 Jahren neu konzeptualisiert hat und der die Bindungen und Loyalitäten auf der familialen Mikroebene deutlich macht. Die psychoanalytische Lesart bietet eine wichtige Verstehensdimension an, die vor dem Hintergrund der Marxschen negativen Systemtheorie individuelle und soziokulturelle Komponenten analytisch zusammenführt.
Totalitäre Systeme scheinen nur auf den ersten Blick ein Auslaufmodell zu sein; auch der für kapitalistische Gesellschaften notwendige Glaube an permanentes Wachstum sowie die postmoderne Erfordernis persönlicher Selbstverwirklichung können als Totalitarismus verstanden werden – wo Freiheit drauf steht, muss nicht zwangsläufig Freiheit drin sein. Ob ein libertärer Sozialismus (Rattner) jemals realisierbar ist, ist mehr als fraglich. Alle Utopien scheinen erledigt; allein die Dystopie feiert fröhliche Urständ. Doch ist diese lebenswert? Auch dies fragt der Abend, der sich jenseits der Markierungen eines Salonsozialismus begibt, der mittlerweile nicht einmal mehr in Karikaturen vorkommt.
Alle paar Jahre wartet das amerikanische Drama mit einem großen Wurf auf; dies ist gewiss ein solcher.