Dieser Artikel erschien bereits am 10. Februar 2013 in Schleswig-Holstein am Sonntag. Am 29. September 2013 erscheint er in der PAZ
Von Uta Buhr
Guatemala zwischen Schamanismus und modernem Fortschrittslärm
Am 29. Juli 1773 fiel Antigua, die barocke Perle im Hochland von Guatemala, einem schweren Erdbeben zum Opfer. Wenn sie auch nach dem Wiederaufbau ihre einstige Schönheit nie wieder erreichte, gilt die zum UNESCO-Weltkulturerbe geadelte Stadt mit ihren prächtigen Kirchen, plätschernden Brunnen, anmutigen Palazzi und herrschaftlichen Residenzen auch heute noch als die schönste Hinterlassenschaft der spanischen Konquistadoren in Mittelamerika.
Kaum ein Europäer kann sich dem Zauber dieses tropischen Paradieses im Süden der Halbinsel Yucatán entziehen. Dichter Urwald bedeckt weite Flächen des Landes. Hier und da blitzen Teiche auf, murmeln Bäche im Unterholz.
Doch der Garten Eden birgt auch Gefahren. Aus einem Gewässer, in dem sich Hunderte von Schildkröten und bunte Fische tummeln, ragt ein verwittertes Schild mit der Aufschrift „Vorsicht Krokodile!“ Auch vor Schlangen, die sich im Dickicht verbergen, wird gewarnt. „Aber nur vier Arten sind richtig giftig“, beruhigt Cicerone José seine Gäste und tastet mit einem langen Stab das Unterholz ab.
Bürgerkrieg hat Spuren hinterlassen
Als Postkartenidylle erweist sch der von drei Vulkanen gerahmte Lago de Atitlán. Eine Nussschale bringt unsere Gruppe hinüber nach Santiago, ein kleines Dorf mit zahlreichen Webereien und Kunstgalerien. Am Ufer wartet bereits eine ganze Armada von Tuktuks, jenen Minitaxis, die an überdachte Motorroller erinnern, um die Touristen über holperiges Kopfsteinpflaster zu den schönsten Aussichtspunkten zu schaukeln. Der Weg führt vorbei an Bananenstauden, Indigo- und Baumwollplantagen. Während des 36 Jahre dauernden Bürgerkrieges im Lande, als viele ihrer Ehemänner starben, schlossen die Frauen des Ortes sich zu einer Kooperative zusammen. Sie bauen ihre eigene Baumwolle an, weben sie an traditionellen Webstühlen und färben die Stoffe mit Pflanzenfarben. Die bunten Tücher, Schals und Decken sind als Souvenirs bei Touristen heiß begehrt.
„Heute dringen wir in die Zauberwelt unserer Vorfahren, der Mayas, ein“, verkündet José am Morgen und bittet jeden von uns, für diesen abenteuerlichen Ausflug festes Schuhzeug anzuziehen. Der Weg nach Tikal über schlammige Pfade, spitze Steine und Baumwurzeln ist beschwerlich. Doch die Strapazen werden mit einem atemberaubenden Szenario belohnt. Die einstige Kultstätte der Mayas ist ein magischer Ort, der einem schier den Atem verschlägt. Hoch aufstrebende Pyramiden recken sich unter dem grünen Urwalddach dem Himmel entgegen. Brüllaffen schwingen sich von Ast zu Ast und machen dabei einen Ohren betäubenden Lärm, während die winzigen Spinnenaffen in den Wipfeln der hohen Bäume in das „Konzert“ mit einfallen. Unter das Gekreisch der farbenprächtigen Papageien und Tukane mischt sich das Trällern und Tirilieren anderer gefiederter Urwaldbewohner. Auf den Stufen zum Tempel des Großen Jaguar, der zu Ehren von König Ah Cacau errichtet wurde, hat sich
eine Schulklasse niedergelassen. Der Lehrer erteilt den Zwölfjährigen Unterricht in „Ahnenkunde“ und erklärt ihnen den Bau des Tempels, der wahrscheinlich nach den Plänen des Herrschers höchstselbst erbaut wurde. „Ihr müsst euch vorstellen, wie tief beeindruckt das Volk vor 1200 Jahren beim Anblick des Hohen Priesters gewesen sein muss, wenn der, angetan mit Puma- und Ozelotfellen, einer Kaskade aus Jadeketten und geschmückt mit bunten Papageienfedern die vielen Stufen bis auf den höchsten Punkt der Pyramide hinaufstieg.“ Die Treppe ist gesperrt, seitdem mehrere Waghalsige versuchten, das Ritual nachzuvollziehen, und dabei zu Tode stürzten.
Holzfigur verraucht für 20 Dollar täglich
Die katholische Kirche war bei ihrer Mission, die Urbevölkerung zum Christentum zu bekehren, gewiss nicht zimperlich. Da die Menschen jedoch an ihren Lokalheiligen und Schamanen nicht lassen wollten, ließen die Priester den einen oder anderen heidnischen Halbgott zu, der Seite an Seite mit Jesus Christus die jeweilige Kirche bevölkern durfte. Der sogenannte „Synchretismus“ steht auch heute noch in Guatemala hoch im Kurs. Eine ebenso eindrucksvolle wie skurrile Figur ist der Maximon, ein Schamane aus dem 16. Jahrhundert, dessen farbenfroh gekleidete Holzfigur in einem abgedunkelten, von Kerzen erhellten Raum rund um die Uhr von zwei Männern bewacht wird. Nur jene, die bereit sind, einen Obolus von etwa 2 Dollar zu entrichten, werden in das Allerheiligste vorgelassen. Filmaufnahmen kosten sogar 20 Dollar. Immerhin, so wird argumentiert, müsse man Kerzen und die Zigarre bezahlen, die dem Maximon täglich frisch in den Mund gesteckt wird.
Wer nicht Chichicastenango – kurz Chichi – besucht hat, ist nie in Guatemala angekommen, sagt der Volksmund. Dieser größte und bunteste Mayamarkt Lateinamerikas ist in der Tat ein Erlebnis der besonderen Art. Hier werden prachtvolle Stoffe in allen Farben des Regenbogens, Schnitzereien, Töpfe, Krüge, Obst, Gemüse, Gewürze, exotische Speisen und Getränke in einer Fülle angeboten, dass es einen schwindelt. Frauen, schwere Lasten auf ihren Köpfen balancierend, schreiten würdevoll an den Ständen vorbei, während kleine Kinder versuchen, Lesezeichen und Strohpuppen wortreich an den Mann oder die Frau zu bringen. Hin und wieder donnert ein Motorrad vorbei, versucht ein Musiker mit seiner Flöte den Lärm zu übertönen. Es macht Spaß, mit den Händlern um hübsche Mitbringsel wie Töpferware, schreiend bunte Wollmützen oder Ponchos zu feilschen. Am Ende dieses aufregenden Tages weckt eine Tasse des berühmten guatemaltekischen Hochlandkaffees wieder die guten Lebensgeister.