Von Günther Falbe
Sie stehen nicht in den Schlagzeilen und sind auch nicht bei den Talk-Shows im Fernsehen zu finden. Sie sind keine öffentlichen Personen und fungieren nicht als Berater in irgendwelchen Institutionen. Sie sind und bleiben anonym in einer freiwilligen Gemeinschaft ohne Zwänge, die ihre Hilfe allein im Gespräch bietet, zwischen Menschen, die das gleiche Schicksal haben: Sie sind Alkoholiker. Zwei Millionen Abhängige soll es allein in Deutschland geben, die Dunkelziffer ist unbekannt. Ihnen den Weg aus der Sucht anhand des eigenen Schicksals aufzuzeigen, ist die selbst gewählte Aufgabe der namenlosen Träger der weltweiten Gesellschaft der Anonymen Alkoholiker, die vor 75 Jahren in Ohio/USA gegründet wurde.
Eigentlich wollten Bob, der erfolgreiche Chirurg,, und Bill, der Börsenmakler, nur ihre
schlimmen Erfahrungen austauschen, die sie durch ihre Trunksucht gemacht hatten. Sie stellten dabei fest, dass die Gespräche ihnen gut taten, weil sie so ehrlich über ihre Ängste und Zwänge sprechen konnten. Sie halfen ihnen, den Alkoholismus als Krankheit anzusehen und beschlossen aus dieser Erkenntnis heraus, ihre Sucht gemeinsam zu bekämpfen. Sie suchten Gleichgesinnte, es bildeten sich erste Gruppen in Akron, New York und Cleveland. Die etwa 100 Mitglieder zählende Gemeinschaft beschloss 1939, ihre Grundsätze und Erfahrungen in einem Buch zu veröffentlichen. Als Titel wählte man ALCOHOLICS ANONYMOUS“ – damit hatte die Gemeinschaft einen Namen. Dieses „Blaue Buch“, in dem das geistige Gedankengut der Gemeinschaft in 12 Schritten zusammengefasst ist, wurde zur Grundlage der Gruppenarbeit der Anonymen Alkoholiker – und das weltweit. Heute gibt es in rund 150 Ländern über 90 000 Gruppen mit 1,8 Millionen Mitgliedern. Nach Deutschland kam die Bewegung 1953, als amerikanische Soldaten, durch die AA abstinent geworden waren, ihre Erfolge auch deutschen Alkoholikern vermitteln wollten Diesem ersten Schritt in München folgten Gruppenbildungen in weiteren Großstädten, bis sie um die Jahrtausendwende in der Bundesrepublik flächendeckend die Zahl von rund 2 700 Gruppen erreichte. Hinzu kommen über 270 AA-Gruppen und Kontakte in Krankenhäusern, auch in vielen Justizvollzugsanstalten sind sie vertreten. Für betroffene Familienangehörige gibt es die Al-Anon- Familiengruppen, auch spezielle Selbsthilfegruppen für Kinder, denn die Umgebung der Alkoholkranken ist immer mit einbezogen in die Problematik.
Die Frauen und Männer, die sich irgendwo in Deutschland zu einem der regelmäßig stattfindenden AA-Meetings treffen, haben diese Krankheit an Leib und Seele gespürt und die Hölle des Entzugs durchlitten Einige sind schon 20, 30 und auch mehr Jahre dabei, haben in der Gruppe der AA-Freunde ihren Halt gefunden. Und wollen ihn ständig festigen im gemeinsamen Austausch der Erlebnisse und Erfahrungen Denn sie sind „trockene Alkoholiker“ und bleiben es auch. Man bezeichnet sie auch als „genesende Alkoholiker“, aber das könnte leicht zur Verwechslung mit „geheilt“ führen. Und das wäre ein Irrtum. Deshalb beginnt auch jeder Teilnehmer des Meetings, der sich zu Wort meldet, mit der Nennung seines Vornamens – und nur dieser bleibt bekannt – und dem Bekennen: „Ich bin Alkoholiker“. Das irritiert manchen Besucher, der neu in der Gruppe ist. Denn die meisten Alkoholiker wollen und können nicht eingestehen, dass sie abhängig sind. Das haben aber die Angehörigen, die Kollegen, die Freunde längst erkannt und dem Süchtigen den Rat gegeben, sich an die AA zu wenden. Andere haben von sich aus den Weg gesucht und gefunden oder wurden durch einen „trockenen“ Freund beeinflusst, eine Gruppe aufzusuchen Aber immer sind sie skeptisch, wenn sie zum ersten Mal an einem Meeting teilnehmen. Sie befürchten eine Belehrung, die Kritik, den erhobenen Zeigefinger, den Zwang zur Bloßstellung. Das alles gibt es hier nicht. Jeder, der etwas zu sagen oder zu fragen hat, kann dies tun. Er spricht nur für sich und über sich selbst. Durch das offene und ehrliche Bekennen des anderen kann der Zuhörende die Fähigkeit entwickeln, sich selber zu erkennen. Er lernt, seine eigenen Schwächen, Fehler und unkontrollierte Handlungsweise selbstkritisch zu betrachten und sie schließlich offen zu legen. Das Gefühl, hier Gleicher unter Gleichen zu sein, macht Mut. Die Beispiele jener, die „trocken“ geworden sind und aus scheinbar auswegloser Lage einen neuen Start in ein wieder lebenswert gewordenes Leben gefunden haben, geben Hoffnung. Und führen zu der Möglichkeit, die wahre Bedeutung des Anteils bei seinen Schwierigkeiten zu erkennen und über sie zu sprechen. Damit ist schon viel gewonnen.
Aber der Weg bis zur konstanten Abstinenz ist für viele Willige noch weit. Der Halt, den die Gruppe bei den Meetings vermittelt, muss auch in den Alltag hineingetragen werden, und da lauern die Gefahren. Auf einer Betriebsfeier, einem Familienfest, auf einer Tagung, auf einer Reise, bei irgendwelchen „gemütlichen“ Stunden. Wenn ein Mitglied beim Meeting eingesteht: „Ich habe wieder getrunken!“, dann ist das auch für die Freunde erschreckend, aber es gibt keinen Vorwurf: „Wie konntest du das tun!“ Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass die Gefahr für einen Rückfall immer präsent ist. Sich hier – und für viele Betroffene eben n u r hier – aussprechen zu können, führt schon weiter. Und immer wieder der Hinweis auf eine der Schritte aus dem Blauen Buch, „das erste Glas stehen zu lassen“. Das wird ist ein schwerer und doch heute leichter zu begehende Weg in die Abstinenz als noch vor einigen Jahren, als in vielen Fernsehsendungen der Griff zur Cognacflasche als probates Mittel zur Problembewältigung demonstriert wurde und das Champagnerglas höchsten Lifestyle vermittelten wollte. Heute werden auf vielen Empfängen und Feiern auch alkoholfreie Getränke – mit Rücksicht auf die Promillegrenze – angeboten. Die Problematik liegt jetzt ganz wo anders: bei den blutjungen Komasäufern. Deshalb gehen auch einige AA-Freunde in die Schulen, um über ihre eigenen Erlebnisse zu berichten. Ohne Namensnennung – sie bleiben auch da anonym.