erschienen in der PAZ
Von Dr. Manuel Ruoff
Krimkrieg: Am 27. und 28. März 1854 sprangen die Westmächte dem Osmanischen Reich zur Seite
Der Krimkrieg unterscheidet sich von der aktuellen Krimkrise nicht zuletzt darin, dass die Krim damals nicht Streitobjekt der Kontrahenten, sondern Hauptkriegsschauplatz war. Nichtsdestotrotz drängt sich allein schon aufgrund des Namens ein Vergleich der aktuellen Krise mit dem damaligen Krieg geradezu auf. Und tatsächlich gibt es bei allen Unterschieden eine Reihe durchaus erhellender Parallelen, Analogien und Ähnlichkeiten.
Das fängt bereits mit den Parteien an. Auch vor 150 Jahren standen sich die Westmächte – damals in Form der westeuropäischen Großmächte Großbritannien und Frankreich – sowie die Ostmacht Russland gegenüber. Und auch hinsichtlich des Machtzentrums in der Mitte Europas, Deutschland, war die Lage in mancher Hinsicht vergleichbar. Einerseits stimmten seine Interessen und Ziele mit denen des Westens nicht überein, andererseits stand es nichtsdestoweniger der westlichen Erwartungshaltung gegenüber, sich in der Auseinandersetzung mit der Ostmacht in die Front der Westmächte einzureihen.
Schauen wir uns die damalige deutsche Haltung näher an, so gab es damals zwar den Deutschen Bund als einigendes Band, doch ist zwischen den ihn dominierenden beiden deutschen Großmächten Preußen und Österreich zu differenzieren. Preußen wahrte Neutralität – und wurde damit zum Opfer westlicher Kritik, wie es mittlerweile gang und gäbe ist, wenn Deutsche sich weigern, an der Seite der Westmächte für deren Ziele zu kämpfen. So spottete die Londoner Tageszeitung „The Times“, dass Preußen nur am Konferenztisch, nicht aber auf dem Schlachtfeld zu finden sei. Österreich hingegen schlug sich auf die Seite der Westmächte, schloss mit den Kriegsparteien Frankreich und Österreich am 2. Dezember 1854 sogar das sogenannte Dezemberbündnis, unterließ es aber, wie die Westmächte Russland den Krieg zu erklären. Damit setzte sich Wien zwischen die Stühle. Die Westmächte waren unzufrieden mit Österreichs geringem Engagement. So machte es die Haltung des Kaiserstaates beispielsweise unmöglich, Russland im Zentrum Europas an der österreichisch-russischen Grenze auf breiter Front anzugreifen. Aus Ermangelung einer eigenen Grenze mit Russland wichen die seefahrenden Westmächte deshalb notgedrungen auf eine Offensive zur See über die Ostsee und vor allem das Schwarze Meer aus. Viel mehr noch als die Westmächte war jedoch Russland von der österreichischen zwar nicht kriegerischen, aber doch eindeutig prowestlichen Haltung enttäuscht. Petersburg empfand Wien als undankbar, hatte es doch in der 48er Revolution durch die Beteiligung an der Niederschlagung des Aufstandes separatistischer Ungarn maßgeblich zum Erhalt der territorialen Integrität der Donaumonarchie beigetragen. Diese vermeintliche Undankbarkeit des Habsburgerreiches hat die österreichisch-russischen Beziehungen nachhaltig geschädigt und ist ein maßgeblicher Grund dafür, dass das Zarenreich später wohlwollende Neutralität übte, als Preußen unter Ministerpräsident Otto von Bismarck die deutsche Frage zum Schaden Österreichs im kleindeutschen Sinne löste.
Die Rolle der Ukraine in der gegenwärtigen Krimkrise ist wohl beim Krimkrieg am ehesten mit derjenigen des Osmanischen Reiches zu vergleichen, bildete doch damals ein offensives Vorgehen Russlands gegenüber seinem osmanischen Nachbarn den Ausgangspunkt des Krieges. Ähnlich wie heute die Ukraine war damals das Osmanische Reich seinem russischen Nachbarn unterlegen. Seine besten Jahre hatte es längst hinter sich und der russische Zar wollte den „kranken Mann am Bosporus“ im Einvernehmen mit dem sogenannten Konzert der Mächte, sprich den anderen vier europäischen Großmächten, beerben. Er selber hatte es dabei insbesondere auf die türkischen Meerengen abgesehen, auf dass seine Schwarzmeerflotte ungehinderten Zugang zum Mittelmeer und darüber dann zum Atlantik bekäme. Nachdem es vorher bereits zu neun russisch-türkischen Kriegen gekommen war – die bilateralen Beziehungen waren traditionell nicht die besten –, besetzten russische Truppen am 3. Juli 1853 die Donaufürstentümer Moldau und Walachei, worauf die Osmanen, zu deren Imperium die Fürstentümer gehörten, am 16. Oktober 1853 den Russen den Krieg erklärten. Am 30. November 1853 griff die russische Schwarzmeerflotte die zum Osmanischen Reich gehörende Hafenstadt Sinope an und vernichtete die dort liegenden gegnerischen Kriegsschiffe fast vollständig. Aus dieser Seeschlacht machte die britische Presse das „Massaker von Sinope“ und heizte damit die antirussische Stimmung an. Die Gräuelpropaganda fiel auf fruchtbaren Boden, galt das autokratisch geführte Zarenreich im liberalen England doch als Hort der verhassten Reaktion.
Zar Nikolaus beging vor seinem Schlag gegen das Osmanische Reich im Grunde denselben Fehler wie Saddam Hussein vor seinem gegen Kuwait. So wie Hussein vorangegangene Äußerungen der US-Botschafterin in Bagdad, interpretierte Nikolaus ein vorangegangenes Gentlemen’s Agreement mit dem britischen Außenminister als grünes Licht der jeweiligen Regierung zum Losschlagen.
Doch da irrte der Kaiser aller Reußen sehr. Die Handelsnation par excellence versuchte, ihre Handelswege nach Möglichkeit vom Einfluss möglicher Konkurrenten freizuhalten. Das galt für Indien, das „Juwel in der Krone“ des Empire, im Besonderen, aber auch für den Balkan, aus dem die Industrienation wichtige Getreidelieferungen erhielt. Ein unbeschränkter Zugang der russischen Schwarzmeerflotte zum Mittelmeer war Großbritannien daher ein ähnliches Gräuel wie ein Naher Osten unter russischem Einfluss. Da war London der kraftlose „kranke Mann am Bosporus“ ungleich lieber. Zudem war das Osmanische Reich Großbritannien ein nicht zu unterschätzender Handelspartner, wichtiger als Russland, Österreich, Frankreich oder Italien.
Für die zweite Großmacht Westeuropas, Frankreich, war ein großer europäischer Krieg die Chance, die Frontstellung aus den napoleonischen Kriegen aufzubrechen und die auf dem Wiener Kongress nach den napoleonischen Kriegen geschaffene Wiener Friedensordnung von 1814/15 zu revidieren. Der Kaiser der Franzosen, Napoleon III., träumte zudem von einer Revanche für den verlorenen Russlandfeldzug seines Onkels und nahm dem Zaren übel, dass dieser ihn nur als „lieben Freund“ und nicht als „meinen Bruder“ bezeichnet hatte, ihm damit die Ebenbürtigkeit absprach.
Die Westmächte hatten also manchen Grund, am 12. März 1854 mit dem Osmanischen Reich einen Kriegshilfevertrag zu schließen und 13 beziehungsweise 14 Tage später Russland den Krieg zu erklären. Vordergründig kämpften in diesem Krieg die Russen gegen die Benachteiligung ihrer orthodoxen Glaubensbrüder durch die Moslems im Heiligen Land, die Franzosen gegen die Benachteiligung ihrer katholischen Glaubensbrüder gegenüber den orthodoxen Christen im Heiligen Land, die Briten für die „Integrität und Unabhängigkeit“ des Osmanischen Reiches und viele Osmanen einen „Heiligen Krieg“. Ideologische Verbrämungen handfester materieller Kriegsziele hat es ebenso wie Propaganda also schon damals gegeben und nicht erst heute.