Ein Essay von Joachim Frank
Bitte lesen Sie den vollständigen Beitrag mit Anmerkungen unter: Katharsis 2
Vor etwas mehr als hundert Jahren begann der I. Weltkrieg, dessen Entstehung viel weniger im Bewusstsein verankert ist als seine fünfundzwanzig Jahre später folgende, noch brutalere, radikalere und menschenverachtendere Steigerung.
Sind die Ursachen des II. Weltkriegs in zahlreichen Publikationen und Dokumentationen für meine Begriffe hinlänglich sichtbar gemacht worden, so verstehe ich bis heute nicht so recht, wieso das Attentat auf den Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie einen Weltkrieg auslösen konnte, und schon Stefan Zweig schrieb: „Wenn man … sich fragt, warum Europa 1914 in den Krieg ging, findet man keinen einzigen Grund vernünftiger Art und nicht einmal einen Anlaß.“ Im am 28. Juni 1919 in Paris unterzeichneten Versailler Vertrag wurde jedenfalls die alleinige Kriegsschuld Deutschlands festgeschrieben. Vielleicht zu Recht, obwohl mir meine umfängliche Lektüre zu diesem Thema ein sehr viel differenzierteres Bild vermittelt hat: Es gab jede Menge internationaler Verflechtungen, Bündnisse, Gegen-Bündnisse, nationale und globale Interessen, die aufeinanderprallten und die vor allem eines gemeinsam hatten: den Willen, ganz eigene, nationale, egoistische Interessen gegenüber anderen durchzusetzen. Deutschland war nicht der Böse unter den Guten, sondern einer der – heute würde man sagen – „Global Player“ der Weltpolitik, allerdings ein Emporkömmling unter den etablierten Großmächten Großbritannien, Frankreich, Russland und Österreich-Ungarn , der, wirtschaftlich und militärisch immer stärker geworden, nun nach einer entsprechenden politischen (Welt-) Geltung strebte.
Aber ich will in diesem Essay nicht der Schuldfrage nachgehen, auch nicht dem komplizierten Geflecht von Interessen und Gründen, das zu seinem Ausbruch führte. In einem Artikel der Hamburger Morgenpost fand ich folgende Antwort auf die Frage, warum so viele Deutsche von einer Kriegsbegeisterung beseelt waren: „Der Krieg schien der ideale Ausweg zu sein, um dem Alltag zu entfliehen. Alles Mögliche floss da ein: Gegensätzliches wie Müdigkeit an der Moderne und Sehnsucht nach etwas Neuem, irrationale Heilserwartung, Lösung der verschiedensten Dilemmata, Überwindung einer Stagnation, außenpolitischer Befreiungsschlag, Verwirklichung nationalistischer, Festigung staatlicher Struktur, Zentralismus und Föderalismus.“
Und wie stand es mit Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen? Stefan Zweig beschrieb deren Haltung so: „… auch wir standen in der Reihe gegen den Krieg, die Schriftsteller, allerdings wie immer individualistisch isoliert, statt geschlossen und entschlossen. Die Haltung der meisten Intellektuellen war leider eine gleichgültig passive, denn dank unserem Optimismus war das Problem des Krieges mit all seinen moralischen Konsequenzen noch gar nicht in unseren inneren Gesichtskreis getreten …“ Es soll nicht verschwiegen werden, dass es eine ganze Reihe namhafter Künstler, Dichter und Denker gab, die zum Teil sogar enthusiastische Befürworter dieses Krieges waren. Menschen also, von denen man eine intelligentere, differenziertere Haltung jenseits von nationalem Pathos, Deutschtümelei und politischer Geltungssucht erwarten durfte. Aber im Gegenteil, „fast alle deutschen Dichter, Hauptmann und Dehmel voran, glaubten sich verpflichtet, wie in urgermanischen Zeiten als Barden die vorrückenden Kämpfer mit Liedern und Runen zur Sterbebegeisterung anzufeuern.“ Doch dann stieß ich zu meiner Verwunderung auf noch einen weiteren, besonderen und mir höchst eigenartig erscheinenden Grund, warum sie den Krieg begrüßten: In ihren Briefen, Tagebüchern und sonstigen Aufzeichnungen versprachen sie sich von ihm eine „Reinigung“.
„Reinigung“? Was ist darunter zu verstehen? Wer sich eine Reinigung wünscht, muss sich ver- oder beschmutzt fühlen. Wovon wollte man sich reinigen und was empfand man als rein? Wieso versprach man sich ausgerechnet von einem Krieg eine reinigende Wirkung?
Der Maler Franz Marc zog zwar „ …, nicht begeistert und von nationalem Hochgefühl überwältigt (in den Krieg), sondern geradezu aufgeräumt, ruhig … Wie etliche zeitgenössische Künstler und Intellektuelle überhöht er den Krieg zu einer großartigen Hoffnung auf eine »Reinigung«. Der Krieg wird, so sein Mantra, weit über 1914 hinaus, ein Durchgang sein, hin zu einem neuen Europa, ein `heilsamer, wenn auch grausamer Durchgang`, so schreibt er im Oktober an Kandinsky … Was die Revolution von 1789 für Frankreich gewesen sei, das werde dieser Krieg für Europa sein“.
Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph und einer der geistigen Väter des Zionismus, schrieb in sein Kriegstagebuch: „Heute Nacht weckten mich Kanonenschüsse vom Meer her, ich stand am Fenster über dem urweltlich stillen Strand (…) und ich wusste nicht, was es war (…), nur dass es Vernichtung war, weithin nach allen Seiten Vernichtung, und – Reinigung des Geistes.“
Harry Graf Kessler war von dem Wunsch einer großen Erneuerung inspiriert, wenn er vom Krieg als Hoffnung schrieb: „Rings herum brannte die Stadt; aber hier ging aus Flammen und Rauch ein neues Leben siegreich auf: vorwärts über Gräber.“
Hermann Hesse bekannte in einem Brief vom Dezember 1914: „Die moralischen Werte des Krieges schätze ich im Ganzen sehr hoch ein. Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden, tat vielen gut (…)“, während der Dadaist Walter Serner den Krieg extrem verharmlosend als eine Reaktion auf das umgehende „Gespenst der Langeweile“ beschrieb.
Thomas Mann verstieg sich in seinen Gedanken im Krieg zu folgender Aussage: „Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satthatte! Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden.“
Auch Ernst Barlach befürwortete den Krieg, wie ein etwas seltsam anmutendes Zitat belegt: „Der Krieg … ist mir wie ein plötzlich zusammengeballter Mond, der um die Erde saust und auf sie jeden Augenblick irgendwo aufstoßen und sie zerbrechen kann … Vielleicht hätte der Mordmond recht. Vielleicht ist es ein Handgriff der Schöpferfaust, aus der er geworfen wird!“
Der Krieg als „Handgriff der Schöpferfaust“? Ich lese das so, als habe Barlach den Krieg als Gottesstrafe empfunden. Aber wofür? Unbenommen der Tatsache, dass sich niemand vor 1914 vorzustellen vermocht haben dürfte, welche Dimensionen von Grausamkeit, Menschenverachtung, ja Bestialität die „moderne“ Kriegsführung freisetzen würde, bleibt doch mit Erstaunen festzuhalten, dass alle zitierten Prominenten den bevorstehenden Krieg als eine Erlösung von etwas, als eine Strafe für etwas, als eine Befreiung oder Reinigung von etwas empfunden haben. Aber Strafe wofür? Reinigung wovon? Was hatte Thomas Mann so satt an dieser Friedenswelt, an dieser Zeit vor 1914, die Stefan Zweig später in seinem Buch Die Welt von Gestern „Das goldene Zeitalter der Sicherheit“ nennen wird? Ging es den Menschen schlecht, litten sie unter Arbeitslosigkeit, Hunger und Seuchen? War es die Dekadenz einer Überflussgesellschaft? Oder was war es sonst? Und vor allem: Wieso versprach man sich ausgerechnet von einem Krieg eine grundlegende Veränderung und Verbesserung? Um es vorwegzunehmen: Eine umfassende, zufriedenstellende Antwort darauf habe ich nicht finden können, bestenfalls einen Erklärungsansatz.
Dafür ist ein kurzer Rückblick auf die damalige Situation in Deutschland hilfreich. Seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 war es mit Deutschland steil bergauf gegangen. Man hatte außenpolitisch an Ansehen durch militärische Stärke gewonnen, die wirtschaftliche Entwicklung war prächtig und auch der Lebensstandard sehr vieler Menschen war stetig – für einige sogar außerordentlich – gestiegen. Es waren auch keine Anzeichen einer Dekadenz wie später in den 1920er Jahren erkennbar, sondern die Gesellschaft wurde von einer bürgerlich gefestigten Mittelschicht getragen, die – repräsentiert von „ihrem“ Kaiser Wilhelm II. und seiner adeligen Gefolgschaft – nach „Höherem“, vor allem aber nach immer mehr Wohlstand strebte. Man wollte „wer sein“ neben den anderen Weltmächten England, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland. Wirtschaftlich gab es in Europa so etwas wie eine erste Globalisierung: Die Ökonomie war international verflochten und in Deutschland hatte die Wirtschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen enormen Aufschwung erlebt. Deutschland war in mehreren Industriezweigen führend, was zu einem gesteigerten Selbstbewusstsein geführt hatte. Politisch standen die Staaten aber mehr in Konkurrenz zueinander, als dass man miteinander kooperiert hätte. Bündnisse wurden gegeneinander geschlossen, um Macht und Einfluss innerhalb und außerhalb Europas zu sichern oder zu gewinnen.
Aber die Gesellschaften waren nicht nur in Deutschland mittlerweile tief gespalten. Ihre obersten Repräsentanten, also die Monarchen, waren allerdings so gar nicht geeignet, den neuen Anforderungen einer sich rasant verändernden Zeit Gewicht, Stimme und Autorität zu geben: Zar Nikolaus II. von Russland, Kaiser Wilhelm II. von Deutschland, König Edward VII. von England oder Franz-Josef II. von Österreich-Ungarn waren entweder – wie der Letztgenannte – altersschwach und amtsmüde, oder es waren herrschsüchtige, vergnügungssüchtige, intellektuell limitierte Despoten von eher begrenztem charakterlichen Format. Man klammerte sich an die „gottgewollte“ Herrschaftsform der Monarchie und damit an die eigenen Privilegien und den schier uferlosen eigenen Reichtum. Die Herrschenden verstanden die Zeichen der neuen Zeit nicht, sie wollten Bewahrer einer untergehenden Epoche sein, ohne zu realisieren, dass sie persönlich und die absolutistischen Monarchien insgesamt den modernen Anforderungen nicht mehr entsprachen. Sie verschlossen die Augen vor der Moderne, vor sich gewaltig verändernden Gesellschaften, vor einem neuen Denken, das Antworten auf die veränderten Anforderungen der Zeit suchte. Stattdessen wollten sie das Alte, Traditionelle und letztlich die Weltordnung, wie sie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert darstellte, bewahren beziehungsweise – wie im Falle Deutschlands – einen Platz in deren erster Reihe erwerben.
Die Zeit des ausgehenden 19. und erst recht die des beginnenden 20. Jahrhunderts war geprägt von rasanten, gravierenden Veränderungen und damit von völlig neuen Herausforderungen. Ganz Europa lag im Wettstreit: Maschinenkraft und Elektrizität, neue Technologien und Erfindungen auf allen wissenschaftlichen Gebieten, Landflucht und industrielle Massenproduktion, politische Parteien, Gewerkschaften und Frauenrechtsbewegungen, um nur ein paar Stichworte zu nennen, wälzten den Kontinent geradezu um. Die Masse der Konsumenten entstand: Kleidung, Möbel und Nahrungsmittel konnten dank neuer Fließbandfertigung in vorher nie gekannter Menge und Qualität viel preiswerter als zuvor angeboten werden. Sport, Kino, Reisen wurden für viele möglich und veränderten Lebensgefühl, Freizeitverhalten, Wunschvorstellungen und das kollektive Bewusstsein insgesamt. Und mittendrin ein Deutschland, das „rasende Herz Europas“ , das zur Nummer eins in Wissenschaft , Technik und industrieller Entwicklung avanciert war.
Die gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse hatten sich durch diese Entwicklung bis 1914 bereits extrem verändert: Mit zunehmender Industrialisierung hatte sich neben dem Adel allmählich mit dem neuen „Geldadel“ eine von Herkunft und Bildung weitgehend unabhängige neue bürgerliche Oberschicht gebildet, deren konservatives Wertesystem im Einklang mit dem des Adels stand. Die Symbole des neuen Reichtums wie Autos, modische Kleidung oder Grammophone wurden Normen gebende, erreichbare Ziele eines neuen Mittelstandes, der längst über eigene Möglichkeiten einer wenn auch nicht luxuriösen, so doch gediegenen Lebensführung verfügte. Darunter hatte sich eine immer breiter werdende Mittelschicht gebildet, die danach strebte, auch an den neuen Konsummöglichkeiten zu partizipieren.
Deutschlands politisches Ansehen war im Ausland nicht nur wegen seiner militärischen Stärke, sondern vor allem mit seiner zunehmenden Wirtschaftskraft gewachsen. Beides steigerte nicht nur das nationale Selbstbewusstsein, sondern auch den Willen, die eigene Einflusssphäre innerhalb und außerhalb Europas (Stichwort „Kolonien in Afrika“) zu erweitern. Kurzum: Man hielt es für überfällig, selbst als Weltmacht zu gelten: politisch, ökonomisch und nicht zuletzt moralisch. Und vielleicht liegt gerade in dieser letztgenannten Kategorie der Schlüssel zur Antwort auf die Frage nach dem Warum der Befürwortung des Krieges von den oben zitierten, bis heute höchst angesehenen Dichtern und Denkern: Man fühlte sich eingeengt, unfrei und gegängelt im Korsett einer von Adel, Kapital und Militär geprägten Gesellschaft, deren Lebensform und Lebensgefühl gerade von Intellektuellen und Künstlern als unzeitgemäß, intolerant und weltfremd empfunden wurde. Denn im preußischen Staat hatten sich nicht nur strikte Normen für Verhalten, Umgangsformen und Lebensart ausgeprägt, sondern auch für politische, moralische und künstlerische Ansichten und Ausdrucksformen. Der geistigen Freiheit waren enge Grenzen gesetzt. In Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ oder in Zuckmayers Drama „Der Hauptmann von Köpenick“ wird eindrucksvoll beschrieben, in welch geistiger, künstlerischer und moralischer Enge all jene lebten, die sich nicht für das preußisch-militärische Kasernenhofgebrüll und die damit verbundenen Wertvorstellungen begeistern konnten. Wurde Krieg also von den Außenseitern der Gesellschaft als Möglichkeit wahrgenommen, einer unerträglich gewordenen Enge zu entfliehen? Krieg als Reinigung oder Bereinigung einer Gesellschaft beziehungsweise ihrer Denkmuster, ihrer Ordnung und ihre Wertvorstellungen? Krieg als notwendiges „Stahlgewitter“ –, um den berühmten Roman Ernst Jüngers zu zitieren – damit künstlerische, intellektuelle und moralische Ketten gesprengt werden konnten, um der Individualität wieder eine Geltung zu verschaffen, wie sie im uniformierten Staat unerwünscht war? Krieg also als Katharsis einer Gesellschaft, die „durch materielle Interessen geistig verfallen (sei) und aus sich heraus nicht erneuerungsfähig, weil erstarrt?“ Man sehnte sich dagegen nach einer Gesellschaft, „die von immateriellen Werten getragen sein sollte.“ Dabei blieb diffus, welche Werte das konkret sein sollten, und später stellte sich heraus, dass die Vorstellungen darüber weit auseinander gingen. Einig war man sich allerdings in der Zielsetzung, die bestehende Gesellschaft mindestens gravierend verändern zu wollen.
Kommen wir zurück zum Begriff der „Reinigung“. Das griechische Wort Katharsis bezeichnet nach der Definition der aristotelischen Poetik eine „Reinigung“ von bestimmten Affekten. Durch das Durchleben von Jammer und Rührung, von Schrecken und Schauder sollte der Zuschauer der antiken Tragödie eine Läuterung seiner Seele durch diese Erregungszustände erfahren. In der Psychologie bezeichnet Katharsis die Hypothese, dass das Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen zu einer Reduktion dieser Konflikte und Gefühle führt. Von Katharsis wird gesprochen, wenn durch das Ausleben von Aggressionen, z. B. das Schlagen auf einen Sandsack, eine Reduktion von negativen Emotionen (Ärger, Wut usw.) erzielt werden soll. Nun, wenn man sich beide Definitionen genau betrachtet, wird deutlich, dass Krieg schlechthin bestens geeignet ist, eine so verstandene Katharsis zu bewirken: Das Durchleben von Schrecken und Schauder gewährleistet jeder Krieg ebenso wie das Ausleben von Aggressionen. Liest man beide Definitionen aber genau, so geht es jeweils um eine innere Reinigung des einzelnen Menschen, nicht um die der Gesellschaft. Weiter gedacht bedeutet Katharsis jedes Einzelnen aber auch Reinigung der gesamten Gesellschaft. Es mag sein, dass die Zitierten beides gemeint haben könnten.
Heute fragt man sich ungläubig, wie ein solches Denken möglich war, denn Krieg als Reinigung, das konnte doch niemand ernsthaft gewollt haben. Oder doch? Gelingt es uns heutzutage einfach nicht mehr, die Welt der damaligen Enge und Zwänge zu verstehen? Oder verstanden andererseits jene, die sich damals vom Krieg eine Reinigung versprachen, einfach nicht, welche Konsequenzen ein tatsächlicher Krieg bedeutete? Für beide Argumente sehe ich Anhaltspunkte.
Abschließend möchte ich mit drei Thesen einen Erklärungsansatz für das uns heute absurd erscheinende Prinzip „Hoffnung Krieg“ versuchen. Krieg schien drei Versprechen bereitzuhalten:
1. Krieg versprach das Zerbrechen der gesellschaftlichen Strukturen. Der sprichwörtlich gewordene preußische Beamtenstaat hatte ein geistiges Klima der Enge, der Intoleranz und der Unfreiheit geschaffen. Ernst Jünger fasste das so zusammen: „Vor dem Krieg dachte ich wie mancher: Nieder, zerschlagt das alte Gebäude.“ Was als künstlerisch wertvoll anzusehen war, das legten Akademien fest. Oppositionelle Auffassungen, wie sie beispielsweise Brücke-Maler repräsentierten, stießen auf Unverständnis, wenn nicht gar auf Häme und Spott. Es mag sein, dass sich ein Künstler wie Franz Marc durch den Krieg ein Aufbrechen oder gar Zusammenbrechen dieser gesellschaftlichen Strukturen versprach. Noch ein Beispiel: Als „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann 1894 für die öffentlichen Bühnen freigegeben wurden, kündigte Kaiser Wilhelm II. aus Protest seine Loge im Deutschen Theater und sagte dieser „Rinnsteinkunst“ – gemeint waren die Werke des Naturalismus – den Kampf an.
2. Krieg versprach den emotionalen Ausbruch aus den aufgezwungenen Lebensweisen der Eintönigkeit, Langeweile und Unterdrückung. Der durchschnittliche Bürger lebte in der damaligen Gesellschaft in einer enormen bürgerlichen Enge. Sitte und Anstand, Manieren, Benehmen waren in Kleidung und Verhalten strengstens vorgegeben. Nicht zufällig galt die Uniform als Ideal und das soldatische Verhalten, sprich der Gehorsam, als höchste Tugend. Wo gab es Ventile, wie kompensierte man Ärger und Enttäuschung, Frust und Verzweiflung, wo blieb Platz für das Ausleben der Gefühle? Sicherlich im privaten Bereich, aber alles musste verdeckt und versteckt bleiben. Der britische Journalist Charles Edward Montague schrieb: „Ich spürte in mir ein übergroßes Verlangen zu kämpfen. Ich spürte die Verlockung der Gefahr und eine Leidenschaft nach mehr Leben, als hinter einem Schreibtisch möglich schien.“ Ein ähnliches Gefühl dürfte viele auch in Deutschland bewogen haben, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Prominente Bespiele wären die Maler Otto Dix, Ludwig Kirchner, Max Ernst, Max Pechstein, Franz Marc, Oskar Kokoschka und der Schriftsteller Alfred Döblin.
3. Krieg versprach eine Neuordnung der Besitzverhältnisse. Seit dem Amtsantritt Bismarcks 1862 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Deutschland „ … (ein) geradezu sensationelles Wirtschaftswachstum“ und lag mit seiner Industrieproduktion 1913 im weltweiten Vergleich auf Platz zwei – hinter den USA, aber bereits vor Großbritannien: „Wohin man auch blickte, waren die Konturen eines (deutschen) Wirtschaftswunders zu erkennen“ . Es muss nicht betont werden, dass sich daraus ein neuer, enormer Reichtum und Wohlstand der Fabrik- und Firmenbesitzer ergab. In deren Gefolge hatte sich eine Mittelschicht gebildet, die vom neuen Wohlstand partizipierte und sich deutlich von der breiten Bevölkerung abgrenzte. Augenfällig wurde eine „… demonstrative Zurschaustellung des Reichtums, die für das Gesellschaftsleben unter den Wohlhabenden des frühen 20. Jahrhunderts charakteristisch (war).“ Die markanten Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Prunk und Protz auf der einen und – wenn nicht Not und Elend – dem Kampf des neu entstandenen Proletariats um das Notwendigste auf der anderen Seite schrien geradezu nach Veränderung. Ein Krieg versprach diese Veränderung und einen Neuanfang.
Und heute? Ich möchte keine Vergleiche zu der Zeit vor 1914 übers Knie brechen, aber gewisse Parallelen erscheinen mir augenfällig. Allerdings gibt es nach der Erfahrung zweier Weltkriege einen gravierenden Unterschied zu damals: Niemand in Europa verspricht sich mehr eine Reinigung von was auch immer von einem Krieg. Oder ist das zu naiv, zu gutgläubig, zu optimistisch gedacht? Schließlich – so jedenfalls die These des renommierten Historikers Christopher Clark – „schlafwandelte“ das damalige Europa ja auch dem I. Weltkrieg entgegen.
Mein Fazit lautet: Wenn wir einen Krieg im Zentrum Europas heute für undenkbar halten, zeigt das den enormen Fortschritt im Miteinander der Völker und Nationen unseres Kontinents und ein Gelernt-Haben aus der Vergangenheit. Eine Garantie für den Frieden ist das aber keineswegs.