Von Dr. Wolf-Ulrich Cropp
(Die Kurzversion dieses Beitrags wurde am 01. Mai 2013 auf der igs Hamburg-Wilhelmsburg in der Kapelle „Welt der Religionen“ vorgetragen.)
Höre ich Radio, schaue ich fern, lese ich Zeitung, achte ich auf der Leute Gerede im Café, bisweilen auf der Straße, empfinde ich immer öfter Überdruss, ja Ekel ob der ewig gleichen Wörter, die gesprochen, geschrieben oder sonst wie abgesondert werden. Unnützes Geschwätz, das da in den Äther strömt!
Stets die gleichen, nichtssagenden Floskeln, Wendungen, Metaphern.
Noch schlimmer ist es, wenn ich mir selbst zuhöre und feststelle, dass auch ich die ewig gleichen Dinge sage. Die so schrecklich verbrauchten, abgenutzten und millionenfach verwendeten Vokabeln!
Wo bleibt die Bedeutung, wo der Sinn?
Wo bleibt der Ausdruck für bewegende Gedanken?
Alles nur wirkungslose Lautgebilde, leere
Worthülsen!
Eingravierte Spuren des Geplappers!
Was möchte ich?
Wörter, die Sprache neu erfinden? Das ist unmöglich!
Weil ich schreibe, möchte ich vielleicht Wörter neu schöpfen?
Sätze modellieren? Makellos, wie polierter Marmor. Rein wie
Bergkristall. Klar wie das Wasser eines Gebirgsbachs. Und daraus
Sätze schmieden. Nicht exaltiert, nicht gewollt.
Archetypische Wortperlen, am goldenen Faden aufreihen!
Im Ton rein, einer Fuge Bachs gleich. Die den Hörer zu
vollkommener Andacht zwingt.
Ja, das ist es was ich möchte, den Schlamm der Wortbeliebigkeit
abwaschen.
Endlich meine Wut über die klebrigen Wortgewohnheiten
verdammen und erleben wie erschaffene Wörter, kreierte Sätze
die Menschen ringsum aufhorchen, erstaunen lassen.
Einzig allein der Schönheit der Sprache willen.
Einer Schönheit, die nichts anderes ist als der Glanz der Klarheit.
Es wären zwingende, unerbittliche Sätze, die unverrückbar da
stünden, wie eine Komposition. Geschaffen von einem
Diamantschleifer der Worte.
Den erhabenen Gedanken weitergesponnen, weiß ich, wie
utopisch dieses Verlangen ist!
„Kommt, reden wir zusammen. Wer redet, ist nicht tot“, sagt
Gottfried Benn. Wir leben nicht nur mit der banalen Sprache,
den abgegriffenen Wörtern, wir leben aus ihr und von ihr.
Wir brauchen sie zur Kommunikation wie die Luft zum atmen.
Ein einziges Wort zu erfinden, ist nur wenigen gegeben. Ein
Glücksfall. Das erfundene Wort lebt erst durch die Akzeptanz
der Masse. Wie ein einflussreicher Kritiker bestimmt sie über
Leben oder Tod einer Wortschöpfung.
(Wohlverstanden: Ich meine nicht die wildwütigen
Wortproduzenten der modernen Kommunikationsindustrie,
die uns mit Anglizismen überschütten.)
Und das ist es, was mich so traurig stimmt beim Sinnen über
eine neue Schönheit von Wort und Sprache.
Die Macht der Wörter ist die am stärksten konservative Kraft
in unserem Leben. Gedankenlos und hergebracht wälzen wir
Wortmumien über Zunge und Lippen. Wörter sind Urenkel,
und unsere Nachsicht ist grenzenlos.
Wörter sind es, die unsere Gedanken kanalisieren, Vorurteile
züchten oder abbauen, Verhalten steuern.
„Ich muss zwangsläufig und verstohlen die Lektüre meiner
Frau kontrollieren, um zu wissen, was sie denkt“, gestand
Arno Schmidt.
Mit Wörtern ordnen wir die Welt.
Wörter verführen, attackieren oder versetzen uns in eine
besondere Stimmung:
Laut und erkennbar durch Befehl, Drohung, Hohn, Fluch.
Heimlich durch Manipulation oder Ergriffenheit.
Und nun frage ich mich: Was ist das Wort?
Der Verrat der Gedanken, die Preisgabe eines Geheimnisses?
Wer zeugt das Wort?
Das Hirn?
Was ist das Hirn?
Ruheloser Geist?
Die Zunge?
Was ist die Zunge?
Ein Fleischlappen, der sich bewegen will?
Dann – wie entstand das Wort?
Der Gläubige sagt: durch Gott.
Die Evolution sagt: durch das Schaf.
Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott
sprach: „Es werde Licht!“ Und es ward Licht. (Pf.33,9;2. Kor.4,6.)
Das war vor rund 6000 Jahren, als die Welt erschaffen wurde.
Darwinisten und Evolutionsgläubige schütteln den Kopf.
Der Prozess der Wortbildung begann vor über 3 Millionen Jahren!
Frühmenschen ahmten Tierlaute nach. Daraus entwickelten
sich Wörter, dann die Sprache.
Wer hat recht?
Aus der Frage entbrannte ein ewiger, noch heute währender Streit.
Ist das nicht belanglos? Wir haben die Sprache! Nur das ist
von Bedeutung!
Von Bedeutung, weil mit ihr Gesetze formuliert werden. Gesetze,
die über Schuld oder Unschuld, Leben oder Tod entscheiden.
„Guilty! Schuldig!“ Dies einzige Wort aus dem Mund der
Geschworenen kann den Angeklagten vom Leben in den Tod
befördern.
Die Macht des Wortes!
Diese ist vielschichtig: Reflektieren wir
über die Medien und deren Einfluss auf ihr Publikum den Gebrauch
der Wörter. Fühlen wir da nicht wie einst Hermann Hesse:
„Wohl zehn Minuten las ich in der Zeitung,
ließ durch das Auge den Geist eines verantwortungslosen
Menschen (Journalisten) in mich hinein, der die Worte anderer
im Munde breitkaut und sie einspeichelt, aber unverdaut
wieder von sich gibt.“
Worte ausstoßen, heißt zuvor nachdenken, Verantwortung
übernehmen. Wie rasch schlägt die Artikulationsfähigkeit bei
lückenhaften Wissen um in verunglimpfendes Geschwätz?
Es genügt nicht, einen guten Gedanken zu haben. Man muss
auch fähig sein, diesen adäquat zu äußern!
Wie viele Trugschlüsse und Irrtümer gehen auf Kosten der
Wörter und ihrer unsicheren oder missverstandenen Deutung?
Bisher hat man dieses Hindernis so wenig als Übel erkannt,
dass man vielmehr die Kunst, es zu vergrößern, zum Gegenstand
des Studiums gemacht hat, und diese Kunst hat manchem den
Ruf der Gelehrsamkeit und des Scharfsinns eingetragen.
Nun steckt aber auch eine mörderische Kraft, eine zerstörerische
Gefahr in ungesagten Wörtern. Ich denke an die Qual des
Schweigens zwischen Eheleuten, Partnern, Mutter und
Tochter, Vater und Sohn.
Ist für die Wortlosigkeit eines Geisteskranken, den der Psychiater
nach dem Grund seines jahrelangen Schweigens fragte, eine
Erklärung: „Weil ich die Sprache schonen wollte!“
Wohl kaum!
Ich war ein fragender, ein ruheloser Geist.
Die Aula des Gymnasiums war besetzt von Schülern, Eltern,
Lehrern.
Auch mein Vater war da.
Eine Abiturrede besteht aus Wörtern der Huldigung an den
Lehrkörper, an das Wissen, das vermittelt wird.
Ein Dank an das Gymnasium, das uns das Rüstzeug fürs Leben gibt.
Ich sprach über die Kreativlosigkeit, die Heuchelei der
Erwachsenen, die Lebenslügen, die Gängelung des Geistes,
die Lustlosigkeit beim Lernen, die Abschaffung der Freude,
das Töten der Neugierde…
Mein Vater schwieg.
Ich sprach über das geistlose Gebrüll der Lehrer,
die Drohungen des Direktors, die Oberflächlichkeit des
Denkens…
Vater schwieg.
Ich sprach von einer Kirche, die ich mir wünsche, einer
solchen die ich vorfinde. Ich sprach von Scheinheiligkeit,
bigotten Lippenbekenntnissen, devotem Obrigkeitsdenken.
Ich stellte den gütigen Gott in Frage, angesichts der Lehre
über Angst, Hölle und Fegefeuer, Ungerechtigkeit und
Verdammnis…
Vater schwieg.
Was ist das für ein Gott, in dessen Zentrum eine
Hinrichtungsstätte steht? Ich stellte mir vor, es
wäre ein Galgen gewesen, eine Guillotine, ein
Würgeeisen. Wie sähe unsere religiöse Symbolik
dann aus?
Was ist von einem Gott zu halten, der von Abraham
verlangt, den eigenen Sohn zu schlachten, wie ein Tier?
Was mache ich mit meiner Wut, wenn ich das lese?
Ich kann die Bibel nicht weglegen, ich muss sie wegwerfen!
Weil ich genug habe von der Knechtschaft und den
Zumutungen…
Vater schwieg. Die Menge raunte empört.
Viele gingen, auch als ich ihr nachrief:
„Nie würde ich Gott wegwerfen! Aber die Auslegung
des Klerus, die uns zu gramgebeugten,
sündenbeladenen Bittstellern machen will…
Vater ging und schwieg für so viele Jahre.
Einst war er ein ergebener, pflichtbewusster Richter
im Reichs-Justizministerium gewesen. Noch heute erzittere
ich beim bloßen Gedanken an die unausweichliche Wucht,
mit der er mir Spuren hinterlassen hat, die sich wie
Brandwunden nie mehr tilgen lassen.
Ich meine nicht Schläge.
Ich meine Worte väterlicher Macht, mit glühendem Griffel
in die Seele des Kindes geschrieben. Ich brauchte ein
Leben lang um den eingebrannten Text zu entziffern.
So ist es mir mit Dir ergangen, Vater. Deine Unnahbarkeit,
deine Stummheit. Die Sprachlosigkeit hast du zur Tugend
gemacht. Uns alle leiden lassen.
Die Seele war für dich stets ein Ort der Schwäche, die du
versteckt halten musstest. Oder gab es da auch ein
Geheimnis, das dich verschlossen machte?
Warum, Vater, warum hast du nie mit mir gesprochen?
Du musstest wissen: Schweigen ist schlimmer als tadeln!
Die Antwort kam am Ende. Und ich bin mir nicht schlüssig,
ob sie gar aus Angst vor der Hölle kam?
Er lag in seinem Bett. Zusammengesunken. Ein Häufchen
Elend. Sein Atem kam und ging, unregelmäßig, pfeifend
wie der Wind. Und mit jedem Stoß kamen seine Wörter,
wie eine ersehnte, längst überfällige Offenbarung:
„Mein Sohn, warum fällt es mir so schwer über mein
Versäumnis zu sprechen?
Kannst du dir vorstellen, ein Kind zu haben, das mit Begabung
gesegnet ist, die ich mir stets gewünscht habe?
Ein wortgewaltiges Kind, das dem Vater das Gefühl gibt,
besser stumm zu bleiben, um nicht wie ein Stümper zu klingen?
Bei deiner Abiturrede habe ich wütend den Saal verlassen.
Anfänglich.
Tatsächlich aber habe ich deinen Mut bewundert.
Du hast die Gesellschaft kraftvoll aufgerüttelt,
unerschrocken gesagt, was andere nie gewagt hätten.
Und du hast mich in meiner Schwäche, meiner Feigheit,
meiner Unaufrichtigkeit, beschämt.
Das ist es was mich verstummen lies:
Angst vor der Vergangenheit, vor der Gesellschaft,
vor der zerstörten Reputation.
Die Angst erkannt zu werden.
Die Angst vor dem Absturz, ist eine Existenzangst.
Ich war einfach stolz und neidisch.
Neidisch wegen deiner Selbständigkeit im Denken.
Was aus jeder deiner Zeilen spricht.
Wie hätte ich dir den stolzen Neid erklären können,
ohne mich klein zu machen, kleiner noch und gedrückter
als ich ohnehin schon bin?
Deine Artikel, deine Essays habe ich alle gelesen. Wieder und
wieder, denn sie flossen aus meinem goldenen Füllhalter, den ich
dir zur Konfirmation geschenkt habe.
Du schreibst über Verrat, Freiheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit…
mit einem Füller, mit dem ich Todesurteile unterschrieb!“
„Mein Gott, Vater!“
„Ja, Sohn, auf mir lastet eine furchtbare Schuld. Sie machte
mich stumm, weil es für diese Schuld keine Vergebung gibt…“
Vater weinte. Ein Schütteln ging durch seinen verbrauchten
Körper…
Und erstmals erfuhr ich was Wörter anzurichten imstande sind.
Wörter erklären, rütteln auf, schockieren und sie töten.
Diese letzten Wörter meines Vaters lassen mich nicht mehr zur
Ruhe kommen.
Ach, wäre er doch stumm geblieben!