Von Dr. Manuel Ruoff
Mit Hilfe der Vertriebenen wurde Georg August Zinn zum langjährigsten Regierungschef des Bundeslandes
Besucht man in Hessen den Ministerpräsidenten in seiner Staatskanzlei, so befindet man sich in der Georg-August-Zinn-Straße. Der so Geehrte stand von 1950 bis 1969 als Ministerpräsident an der Spitze des von Wiesbaden aus regierten Bundeslandes. Geboren wurde er am 27. Mai 1901 in Frankfurt am Main. Er ist also als Ergebnis des Deutschen Krieges von 1866, in dessen Folge die heutige Bankenstadt ihre Bundesunmittelbarkeit verlor, ein gebürtiger Preuße.
Kurz nach dem Abitur an der Oberrealschule in Kassel im Jahre 1920 verlor der Sohn eines Oberingenieurs seinen Vater. Gezwungen, zum Unterhalt der Familie beizutragen, schloss sich dem Schulbesuch nicht sofort ein Studium, sondern erst eine Tätigkeit in der Kasseler Verwaltung an. Erst drei Jahre später ließ er sich nach der Prüfung für den gehobenen Dienst ohne Bezüge beurlauben und studierte in Göttingen und Berlin Rechts- und Staatswissenschaften. 1927 machte er das erste und 1931 das zweite Staatsexamen. Es folgte eine Tätigkeit als Rechtsanwalt beim Amts- und Landgericht in Kassel.
Politisch war Zinn seit dem Jahr des Abiturs in der SPD organisiert. Der Sozialistischen Studentenvereinigung und dem Republikanischen Studentenbund gehörte der Student ebenso an wie dem Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) und dem Reichsbanner. Ab seiner Referendarszeit saß er für seine Partei in der Kasseler Stadtverordnetenversammlung.
Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten war damit Schluss. Aber seinen Anwaltsberuf konnte er weiter ausüben. 1941 wurde er Soldat. Nachdem er bereits vorher wiederholt inhaftiert worden war, sollte er nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 verhaftet werden, aber eine Namensverwechslung ersparte ihm diesmal die Haft.
Seine Kriegsgefangenschaft bei den US-Amerikanern war kurz. Bereits im Oktober 1945 begann seine Karriere in Staat und Politik Nachkriegsdeutschlands. In jenem Monat wurde er als Landgerichtsdirektor in den Justizdienst und als Justizminister in die hessische Regierung übernommen.
Der hessische Politiker engagierte sich auch in der überregionalen Politik. Dem Wirtschaftsrat der Bizone gehörte er ebenso an wie dem Parlamentarischen Rat. Nachdem er 1949 in den neuen Bundestag gewählt worden war, gab er noch im selben Jahr sein hessisches Ministeramt auf.
Nach Hessens zweiter Nachkriegslandtagswahl vom 19. November 1950, bei der die SPD erstmals die absolute Mehrheit der Parlamentssitze gewann und auf die Unterstützung der CDU nicht mehr angewiesen war, kehrte Zinn als Nachfolger von Ministerpräsident Christian Stock in die Landespolitik zurück. Am 14. Dezember wählte ihn der Landtag zum Regierungschef. Zusätzlich übernahm er wieder das Justizministerium. Es folgten fast zwei Jahrzehnte als Landesvater seines Heimatlandes.
Fünf Legislaturperioden stand Zinn an der Spitze des Bundeslandes. In der nächsten Landtagswahl von 1954 verlor seine SPD zwar die Mehrheit der Landtagsmandate, doch konnte er an der Spitze einer Koalition mit der neu ins Parlament gewählten Interessenvertretung der Heimatvertriebenen und Entrechteten erneut die Regierung bilden.
Die Koalition wurde 1958 durch den Wähler bestätigt und auch 1962 fortgesetzt, als es der SPD gelang, nicht nur die absolute Mehrheit der Mandate zurück-, sondern erstmals auch die Stimmenmehrheit zu gewinnen. Bei der Landtagswahlen 1966 konnte Zinns Partei ihren Erfolg von 1962 noch einmal übertreffen. Mit 51 Prozent erzielten die Sozialdemokraten das beste Ergebnis, das eine Partei in diesem Bundesland erzielt hat. Der Koalitionspartner verfehlte jedoch den Wiedereinzug ins Parlament, und so war Zinns fünfte und letzte wieder eine SPD-Alleinregierung. Hessens Landesvater stand auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Meinungsforscher gaben ihm 100 Prozent Bekanntheitsquote.
Der Ministerpräsident begann sich jedoch Sorgen um die Entwicklung des Föderalismus in der Bundesrepublik zu machen. Seit 1955 amtierte er als der vom Bundesrat bestimmte Co-Vorsitzende des Vermittlungsausschusses von Länderkammer und Bundestag. Die nur schleppenden Fortschritte bei der 1969 verabschiedeten Finanzreform deprimierten ihn. Er dachte an Rücktritt.
Hinzu kamen Querelen auf Landesebene. Während Zinn als deren Vorsitzender die SPD Hessen-Nord im Griff hatte, begann der südhessische Parteiapparat aufzumucken. Wenn seine eigene Person auch nicht zur Disposition stand, so wurde doch seitens seiner eigenen Parlamentsfraktion nun eine entschiedene Verjüngung der Regierungsmannschaft gefordert.
Als der mittlerweile fast 68-Jährige am 12. April 1969 einen leichten Schlaganfall erlitt und sich herausstellte, dass die Genesung auf sich warten ließ, erklärte Hessens Rekordministerpräsident nach 19 Jahren seinen Rücktritt. Am 3. Oktober 1969 endete seine Regierungszeit.
Als am 8. November des darauffolgenden Jahres der Landtag, dem Zinn seit 1954 angehörte, neu gewählt wurde, trat er nicht mehr an. Im selben Monat trat er auch vom Vorsitz des Bezirks Nord-Hessen seiner Partei zurück. Knapp sechs Jahre später, am 27. März 1976, starb Zinn in einem Krankenhaus seiner Geburtsstadt. Beigesetzt wurde er mit einem Staatsbegräbnis auf dem Nordfriedhof der Landeshauptstadt Wiesbaden.
Georg August Zinn versuchte in den prägenden Jahren seiner Amtszeit für das neu geschaffene Bundesland, dessen Grenzen wie die vieler Länder „weniger originär als originell“ waren, um mit Theodor Heuss zu sprechen, eine verbindende Identität zu schaffen. So regte er 1953 die Gründung der Hessischen Landeszentrale für Heimatdienst, der heutigen Landeszentrale für politische Bildung, an und initiierte 1961 den sogenannten Hessentag als jährliche Festveranstaltung an wechselnden Orten des Bundeslandes.
In diese Integrationsarbeit wurden auch die zahlreichen Flüchtlinge aus Ost- und Mitteldeutschland einbezogen. Mit ihrer politischen Interessenvertretung, dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, hatte Zinn bereits frühzeitig eine vertrauensvolle Zusammenarbeit begonnen und damit die Fortsetzung seiner Regierung über den Verlust der SPD-Landtagsmehrheit im Jahre 1954 hinaus ermöglicht.