Fridtjof Nansen: Ein Leben zwischen Eis und Liebe

Von Johanna R. Wöhlke

„Ich kann mir keine kraftvollere, gewaltig sexuelle Leidenschaft, keine perfektere sensuelle Ekstase vorstellen.“

 

Nansen im Museum von Tromsoe

Es gibt Geschichten, die müssen anders erzählt werden als Geschichten üblicherweise erzählt werden, weil sie sich nicht in eine übliche Form pressen lassen. Dies ist so eine Geschichte, eine Reisegeschichte, eine dem Zufall geschuldete, nein, verdankte Geschichte. Eine Reisegeschichte? Ja, vielleicht auch das, eine Reisegeschichte. Es geht um den Friedensnobelpreisträger, Polarforscher, Staatsmann und norwegischen Nationalhelden Fridtjof Nansen, den Zufall, Irritationen, Überraschungen und sexuelle Ekstase. Diese Mischung ist es wert, ein wenig untersucht zu werden.

 

Nansen begegnete mir wie gesagt zufällig in der kleinen norwegischen Stadt Tromsø nördlich des Polarkreises im Polar Museum dort. Zufälle sind es, die interessante Begegnungen hervorbringen. Immer wieder Zufälle.

 

Dies sind die Kernfakten: Es geht um Aktfotos, die er als 67jähriger von sich gemacht und der 30 Jahre jüngeren amerikanischen Journalistin Brenda Ueland gesandt hatte, in die er verliebt war – er zum zweiten Mal verheiratet, sie in einer lesbischen Beziehung mit einer anderen Frau, gemeinsam hatten sie eine Affäre, so heißt es. Für Nansen eine von vielen, so heißt es ebenfalls. Zwei Jahre später starb er. Es geht um erotische Nacktfotos eines Friedensnobelpreisträgers, einer norwegischen Nationalikone, moralische Integrität eingeschlossen.

 

Was ist nicht alles darüber geschrieben worden vor einem Jahr, gerade einmal vor einem Jahr. Ich hatte nichts darüber gelesen. Es war einfach so an mir vorbeigegangen. Ein amerikanischer Verleger hatte die Fotos erstmals zum 150. Geburtstag Nansens veröffentlicht. Norwegen stand Kopf. Man kann die Geschichte in vielen Artikeln im Internet nachlesen, einfach nur „Fridtjof Nansen Aktfotos“ eingeben und der gesamte Informationsfächer wird sich öffnen, wo immer sie wollen und sie werden viel darüber lesen können, seitenweise: Fakten, Fakten, Fakten – aber im Kern ist oben alles gesagt über die Fakten.

 

Wie ich schon schrieb, ich nehme mir das Recht, meine Geschichte zu schreiben und ein wenig über meine Reise und meine „Erfahrung“ mit diesem Fridtjof Nansen zu plaudern, meine überraschenden Erfahrungen mit einem der Großen der Weltgeschichte in einem kleinen Ort, einem kleinen Raum und einer großen und weiten Reise zum Nordkap mit Halt in der kleinen Stadt Tromsø nördlich des Polarkreises und dem Besuch des Polar Museums dort.

 

Das Polar Museum

Es ist ein faszinierendes Museum. Das rote Holzgebäude erhebt sich im Hafen, klein und unscheinbar und dann entfaltet es sein Innenleben. Dieses Innenleben ist gewaltig. Da haben Menschen eine einzigartige Sammlung über das Leben und Personen in diesem Teil der Erde zusammen getragen. Über Jahrhunderte mussten sie hier überleben, sich den lebensfeindlichen Bedingungen in Eis und Tundra, Polarnacht, Jagd auf Wale, Robben und Eisbären, Sturm und Meer stellen und haben es mit Mut und Erfolg getan. Zwei berühmte Norweger sind hier somit auch mit Exponaten aus ihrem Umfeld und Leben gewürdigt: Roald Amundsen, der Polarforscher und erste Mensch am Südpol und Fridtjof Nansen.

 

Nansen begegnet mir erst vor dem Verlassen des Museums in einem Extraraum. Der ist nicht sehr hell beleuchtet und an den Wänden mit  Dokumenten und Bildern bestückt, Ewigkeitsschein verbreitende Büste eingeschlossen, stilvoll, kultiviert, Bronze. Unter den vielen Fotos an der rechten Wand hinter der effektvoll in Licht getauchten Büste entdecke ich ein unter Glas gezeigtes Foto eines nackten Mannes. Ich gehe vorbei, bleibe stehen, schaue zurück. Es ist Nansen. Es ist das Aktfoto eines schlanken, jugendlich wirkenden alten Mannes, der sich dort selbstbewusst in Szene gesetzt hat, wach und energisch in die Kamera schauend, als handele es sich um einen alltäglichen Pressetermin für „Aftenposten“.

 

Walfangharpunen vor dem Museum

Ich stehe und schaue. Aber eigentlich schaue ich mir nicht den Mann an, sondern ich stehe und „denkschaue“. Die Augen haben die Information schon lange an das Gehirn weiter gegeben. Überraschung, Erstaunen und Fragen mischen sich im Stillstehen und einem Augenblick des Verwirrtseins. An einem nackten Mann ist nichts Besonderes. Aber wer erwartet schon das Foto einer nackten Nationalikone in einem norwegischen Museum zwischen Bronzebüste und Devotionalien?

 

Hinter mir steht ein norwegisches Paar, das offensichtlich mich anschaut, wie ich vor diesem Bild stehe. Der Mann setzt sein freundlichstes Schmunzeln auf und ich fühle mich aufgefordert zu fragen. Die Frau wendet sich ein wenig zur Seite. Der Mann erzählt die Geschichte und besonders auch, dass in Norwegen helle Aufruhr geherrscht habe, als diese Bilder veröffentlicht worden sind.

 

Schnell sind wir in einem Gespräch und auch andere Museumsbesucher hören aus der Distanz zu. Fast scheint es, als machten sie das gerne aus angemessener Distanz, ein wenig schüchtern und unbeholfen im Anblick ihres Nationalhelden Fridtjof Nansen als nichts anderes als eines Mannes – so wie die Natur ihn schuf. Mit der erotischen Nacktheit und den Geschlechtsteilen eines Mannes konfrontiert zu werden, den man aus Zeitungen, Schulbüchern, Festreden und einer Vielzahl anderer Veröffentlichungen her voller Ehrfurcht und Bewunderung kennt, das darf erstaunen und im ersten Moment verwirren. Öffentliche Grenzüberschreitung hinein in Intimes und Erotisches wird da nicht erwartet.

 

Blick in den Hafen

Schließlich hatte sein Leben, seine Leistungen und Erfolge, hatten ein Volk und die ganze Welt ihm einen „Mantel der  Verehrung“ genäht, unter dem pure Erotik keinen Platz hatte. So wie Kinder gerne vergessen oder ignorieren, dass ihre Eltern Wesen mit gelebter Sexualität sind, scheinen Völker zu vergessen oder gerne zu ignorieren, dass ihre Nationalhelden Sexualität leben – zumal diese Geschichte vor ungefähr einhundert Jahren spielte.

 

Hier nun also Fridtjof Nansen, mit Ämtern und Würden bekleidet – und dann am Ende seines Lebens, als fast alter Mann, dieses Aktfoto für eine Frau: Gefühl, Erotik und sexuelle Ekstase als Teil einer Persönlichkeit, der man zugesteht, für Ideen und Inhalte ihres Denkens zu werben, aber nicht mit einem Aktfoto des eigenen nackten Körpers einfach nur für den Mann Fridtjof Nansen und seine erotischen und sexuellen Bedürfnisse bei der jungen Frau, in die er verliebt ist.

 

Ich bedanke mich für das Gespräch bei den norwegischen Besuchern, mache meine Fotos und bin nun mit meinen Gedanken allein. „Schau her“, sagt das Bild, „ ich biete Dir meinen Körper. Ich vertraue Dir dieses Bild an und es soll dein Begehren auslösen. Es soll Dich von meiner Zuneigung überzeugen, von meiner Lust auf Dich.“ So oder ähnlich könnte diese Botschaft gelautet haben. Es war privat und wurde auch privat behandelt bis zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung zu Nansens 150. Geburtstag.

 

Aftenposten zitierte aus einem Liebesbrief Nansens an Brenda Ueland: „Ich kann mir keine kraftvollere, gewaltig sexuelle Leidenschaft, keine perfektere sensuelle Ekstase vorstellen.“ Unterschrift: „Dein Wikinger Fridtjof“.  Facebook übrigens sperrte den Link mit den Bildern nach Angaben von „Aftenposten“ binnen weniger Stunden. Umfassende Nacktheit ist dort generell verboten

 

Hartes Leben im Eis

Ja, ich verstehe das Erstaunen der Norweger. Inzwischen haben sie sich beruhigt. Im Polar Museum in Tromsø jedenfalls hat der Privatmann Nansen seinen Platz neben dem „konventionellen“ Nansen gefunden – akzeptiert und vielleicht ab und an hinterfragt. Ich kenne die Diskussion unter den Norwegern darüber nicht. Aber ich bin mir sicher, dass sie genauso vielschichtig sein wird wie die Menschen, die sie führen. Bunt sind die Farben des Lebens auf der Palette der Möglichkeiten, auf dem Pfad der Tugend, der Moral, eingebettet in kirchliche und gesellschaftliche Moralvorstellungen.

 

Verrückt vor Liebe sein, ein wenig verrückt vor Liebe wenigstens – wer kennt das nicht? Wer hat das nicht schon einmal erlebt in seinem Leben? Wer hat solche Fotos nicht gemacht? Die Gedanken kreisen noch immer. Vielleicht werde ich nun mehr von Nansen lesen. Er ist mir näher gekommen dadurch, dass die Ikone zu einem ganz normalen Mann entthront worden ist. Aber eigentlich habe ich auch nichts anderes erwartet und erwarte es auch von keinem anderen vergleichbaren Menschen.

 

Seltsam ist es nicht, dass gerade diese Erkenntnis immer wieder durch die Begegnung mit starken, positiven Emotionen erwächst. Ist es das, was uns Menschen in einem guten Sinne menschlich erscheinen lässt? Ein breites, schier unüberschaubares Areal an Fragen entfaltet sich für mich aufgrund meiner Begegnung mit Fridtjof Nansen und seiner Liebesgeschichte im Polar Museum zu Tromsø. Ich kann sie hier weder stellen noch beantworten aber: Ich kann sie weitergeben an die Phantasie, die Gedankenwelt und Argumente meiner Leser.

 

Übrigens werden Sie dieses Bild, um das es geht, hier nicht sehen. Sie wissen, wie ein nackter Mann aussieht und Nansens Bild war von der Art: schlank, groß, weißblond und unspektakulär. Wenn Sie es sehen wollen, dann bitte: Fahren Sie nach Tromsø oder recherchieren Sie im Internet. Vielleicht werden Sie es finden. Dieses Bild war nicht für uns bestimmt! Ich hätte es nicht veröffentlicht. Viel interessanter ist die Geschichte und sind die Gedanken, die sich daran entzündet haben.

 

Ein wenig Flieder im kalten Sommer

Ich werde ganz sicher noch mehr über dieses ungewöhnliche Leben lesen, denn ich weiß jetzt, dass dieser Forscher eine Gabe besaß, die wohl das Herz jeder Frau anrührt, wenn sie gemeint ist: Sich ganz in ihre Hand zu begeben mit dem Vertrauen auf Gegenseitigkeit und offensichtlich ohne Angst seinen Gefühlen folgend und der Meinung der Welt. Nansens Ehefrau und seine Kinder werden anderer Meinung gewesen sein. Es gibt Konflikte in Liebe und Sexualität, die unauflösbar sind, so scheint es. Alle Welt kannte ihn und sein Leben – aber dann kam dieses Bild in die Öffentlichkeit, das doch schon so lange in der Welt gewesen war.

 

Die wahre Geschichte werden wir nie erfahren. Wir vertrauen sie einfach unseren Gedanken und unserer Phantasie an. Die werden es schon richten und sich ihre eigene Geschichte weben.

Fotos: Johanna R. Wöhlke