Bret Easton Ellis seit 25 Jahren Enfant terrible der Gegenwartsliteratur
Von Götz Egloff
Westliche Gesellschaften stolpern von einer Krise in die nächste, während Politiker zwischen Rat- und Hilflosigkeit alle möglichen Regelungs- oder Entregelungsversuche starten, um angeblich das Gemeinwohl zu reanimieren. Doch nichts von alledem scheint zu greifen. Warum nicht? Womöglich, weil wir es in der Politik mit einer „Mischung aus tödlicher Wirklichkeit und simulativer Evozierung und Bewältigung von Pseudorealitäten“ zu tun haben (H. Vester, Soziologie der Postmoderne, 1993)? Dabei stellt sich sogleich die Frage, wie Realität(en) von Pseudorealität(en) letztendlich zu unterscheiden wäre(n), und ob dies überhaupt möglich ist.
Bret Easton Ellis hat die in der Literatur gängige Frage nach dem „Wer bin ich?“ neu (mit-)definiert.
Das Thema Identitätssuche, das z.B. an Jack Kerouac (“On the Road”) erinnert, dort jedoch noch existenzielle Fragen aufwirft, gewinnt im gesellschaftlichen Gefüge von Hybridität und Hyperrealität, in der sich der Protagonist des 1985 erschienenen Romans „Less Than Zero“ („Unter Null“) von Ellis im Los Angeles der achtziger Jahre befindet, die Dimension einer Außer-Kraft-Setzung nicht nur des Orientierungssinnes. Stattdessen sind ganze Strukturen ins Wanken geraten. Seit der Veröffentlichung des Romans sind 25 Jahre vergangen, und wie man bei der Lektüre dieses finsteren Sittengemäldes feststellen kann, bedurfte es weder des Internets noch des Handys, noch des Zusammenbruchs des einst real existierenden Sozialismus, um die heutigen realen kataklysmischen Gesellschaftsveränderungen in Ellis´ Vision schon vorab wahr werden zu lassen. Vielleicht ist dies ein Phänomen, das ähnlich für George Orwells 1949 erschienenen Roman „1984“ gilt; wo Orwell allerdings noch im Rahmen von Denkmustern seiner Zeit auf totalitaristische Tendenzen hinwies, wurde eine Vision von Big Brother über fünfzig Jahre später in ein bizarres Fernsehunterhaltungsformat transformiert, in dem sich so definierte Freiwillige der so definierten selbstgewählten Belustigung aussetzen. Den gläsernen Menschen gibt es zwar noch nicht, dennoch Tendenzen in diese Richtung. Wie oft beschrieben, werden literarische Entwürfe mitunter durch eine grotesk modifizierte Version in der Realität übertroffen.
Der als Krise – oder Verlust – der Referenz und Repräsentation bekannte Topos dürfte mehr gesellschaftliche Bedeutung haben als gemeinhin angenommen, zu unauffällig finden scheinbar kleine gesellschaftliche Veränderungen mit bisweilen großen Auswirkungen statt. In Don DeLillos Roman „White Noise“ („Weißes Rauschen“) aus dem Jahr 1984 verweist der Erzähler auf eine Scheune, die die meistfotografierte Scheune Amerikas sein soll, die jedoch durch die Hinweisschilder, also „Zeichen, die die Aura herstellen, (…) selbst fast schon unsichtbar“ (Vester) geworden ist. Das Eigentliche, das ´Wesen´ der Scheune ist nicht mehr erkennbar, sondern bereits überformt von Wörtern, Bildern, Phantasien. Ähnlich ist es in „Less Than Zero“: Bilder, Gedanken, Sätze überfluten den Protagonisten; die Zerfaserung von gesellschaftlichen Strukturen spiegelt sich in Los Angeles, dem westlichsten Punkt des „American Dream“ und damit dem Brennglas der westlichen Gesellschaften auf symptomatische Weise. Das ist neu in der Postmoderne: die Überformung von Materie und Idee durch die visuelle Sphäre, der das Individuum ausgesetzt ist; Hyperrealität als Folge der Durchdringung der „Realität erster Ordnung“ durch die Realität aus zweiter Hand. Jene Realität, die aus zweiter Hand stammt, hat Norbert Bolz als Folge der Infragestellung der „traditionelle[n] Differenz zwischen Realem und Imaginärem“ dargestellt, die mit der zunehmenden gesellschaftlichen Virtualität einhergeht (Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, 1991). Die Aufhebung dieser Differenz ist dabei induziert durch die Technologien der Simulation – die visuellen Medien –, die medial eine Hyperrealität schaffen. Bilder verlieren in dieser Hyperrealität ihren abbildenden Charakter; stattdessen sind sie nach Jean Baudrillard als Simulakra zu verstehen, als identische Kopien eines Originals, das nicht existiert. „Tatsachen sind demnach nichts als Emergenzen an den Schnittpunkten zirkulierender Simulakra“, argumentiert Bolz mit Baudrillard (Baudrillard, Agonie des Realen, 1978; Simulacres et simulation, 1981). „So definiert die Logik der Simulation das Reale rein operational – jenseits von Repräsentation und Metaphysik“, wie er in der Folge erklärt.
In Form und Inhalt bringt Ellis dies in „Less Than Zero“ dem Leser nahe, so wie er später immer wieder die Abgründe des Lebens in der Postmoderne durchdekliniert. Das hat ihm Be- und Verachtung, Glorifizierung und Stigmatisierung, hohe Verkaufszahlen und auch Indizierung eingebracht. Als „toxic twins“ blieben er und Autorenkollege Jay McInerney schon im Party-New York der achtziger Jahre den Gestalten der Nacht im Gedächtnis. Im 25. Jahr der Veröffentlichung von „Less Than Zero“ kann Ellis auf zunehmende Beachtung in der Literaturwissenschaft blicken. Dies vermutlich auch, weil die Veränderungen und Beschleunigungen der letzten Jahrzehnte vehement sind. Es bleibt die Lektüre der Werke Ellis´ allen jenen ans Herz zu legen, die den Anspruch haben, von den gesellschaftlichen Vorgängen jetziger Zeiten mehr verstehen zu wollen.