Von Dr. Manuel Ruoff
Bund knüpft gegen Heuss’ Widerstand an Weimar an
Ein Briefwechsel machte vor 60 Jahren das Deutschlandlied zur Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland
Der Aufbau der Bundesrepublik Deutschland orientierte sich unter Ausschluss dessen, was für den Untergang der Weimarer Republik verantwortlich gemacht wurde, weitgehend am Vorbild der ersten Republik. Das gilt grundsätzlich auch für die Staatssymbolik. Die Landesflagge wurde ebenso von Weimar übernommen wie das Staatswappen. Weimars Nationalhymne wurde auch die der Bundesrepublik, doch verlief hier die Übernahme weniger reibungslos. Vor allem dreierlei wurde dem Deutschlandlied von seinen Gegnern übel genommen. Da war zum ersten, dass die Nationalsozialisten im Gegensatz zum schwarz-rot-goldenen Dreifarb und dem rotbewehrten, schwarzen Adler auf goldenem Grund das Deutschlandlied – in Kombination mit ihrem Horst-Wessel-Lied – als Nationalsymbol beibehalten hatten. Da war zum zweiten, dass die in der ersten Strophe enthaltene geografische Verortung Deutschlands zwischen Maas und Memel sowie Etsch und Belt nicht mit den Grenzen der Bundesrepublik übereinstimmte. Und da war zum dritten, dass die ebenfalls im ersten Vers zu findenden Worte „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“ von der Feindpropaganda gerne in der Weise interpretiert wurden, dass damit die Deutschen eine herausgehobene Stellung ihrer Nation gegenüber den anderen beanspruchten.
Der prominenteste Gegner einer Übernahme des Deutschlandliedes als Nationalhymne der Bundesrepublik war deren erster Präsident Theodor Heuss. Des Professors Argumentation in der Frage, welche Symbole sich die junge Republik geben solle, war in sich widersprüchlich. So setzte er sich für die Übernahme der Reichsflagge der Weimarer Republik mit dem Argument ein, dass „die schwarz-rot-goldene Flagge immerhin schon eine gewisse Geschichte gehabt hat“, und erteilte dem Versuch aus dem christlichen Lager, die Weimarer Farben mit dem christlichen Kreuzmotiv nach skandinavischem Muster zu verbinden, eine klare Absage: „Ich habe das Gefühl, dass wir mit dem Versuch, aus dem gegebenen Farbenvorrat nun eine neue Flagge zu konstruieren, etwas in das Kunstgewerbliche hineingeraten sind.“ Andererseits unterstellte er jenen, die mit dem Deutschlandlied die Nationalhymne der Weimarer Republik übernehmen wollten, die ja auch „immerhin schon eine gewisse Geschichte gehabt hat“, „Traditionalismus“ und „restaurative Bedürfnisse, die trotz des ungeheuren Einbruchs in die deutsche Geschichte in dem Volk vorhanden sind“.
Man darf wohl davon ausgehen, dass die Mehrheit der Deutschen das Deutschlandlied als Nationalhymne wollte. Und es gab in der Nachkriegszeit immer wieder Deutsche, die dem Mehrheitswillen ihrer Landsleute Gehör verschafften. Kaum dass die Bundesrepublik gegründet und der erste Deutsche Bundestag gewählt war, gab es einen fraktionsübergreifenden Antrag, das „,Deutschlandlied‘ in seiner ursprünglichen Form“ als Bundeshymne anzuerkennen, der allerdings nach seinem Verweis an den Rechtsausschuss dort versickerte.
Da die Gegner des Deutschlandliedes insbesondere dessen erste Strophe kritisierten, gab es schon frühzeitig den Versuch, diesen mit einer Betonung der dritten Strophe entgegenzukommen. So hatte sich der spätere rheinland-pfälzische Kultusminister Albert Finck bereits am 9. August 1949 in der Tageszeitung „Die Rheinpfalz“ für die dritte Strophe als provisorisches Bundeslied ausgesprochen und am Ende einer Wahlveranstaltung seiner CDU in Lindau die Anwesenden aufgefordert, gemeinsam die dritte Strophe zu singen. Unter den Teilnehmern dieser Veranstaltung war neben Helmut Kohl auch Konrad Adenauer, der im darauffolgenden Jahr in Berlin analog vorging.
Bei einer Großveranstaltung im Titania-Palast am 18. April 1950 forderte der Bundeskanzler die Anwesenden auf, gemeinsam die dritte Strophe zu singen. Wie bei der SPD war auch bei den Westalliierten die Reaktion gespalten. Doch der Bundespräsident reagierte eindeutig negativ. Für ihn war der dritte Vers keine Lösung. Er bescheinigte diesem zwar eine „echte und sinnvolle Würde“, doch wandte er ein: „Ihn isoliert zu nehmen, wie manche vorschlagen, wird aber zu knapp.“ Deshalb ließ er bereits an dem der Veranstaltung folgenden Tag durch sein Amt klarstellen, dass das Absingen der dritten Strophe des Deutschlandliedes bei derartigen politischen Veranstaltungen wie der im Titania-Palast keine Entscheidung in der Frage der Nationalhymne für die Bundesrepublik bedeute und diese vielmehr nach deutschem Staatsrecht ihm zustehe.
Da ihm die dritte Strophe „zu knapp“ war, hätte Heuss die hinsichtlich ihrer musikalischen Qualität über jeden Zweifel erhabene Haydn-Melodie des Deutschlandliedes mit weiteren, neuen Strophen oder einem völlig neuen Text versehen können, so wie es beispielsweise Wladimir Putin mit der Sowjethymne getan hat. Doch auch dieses lehnte er ab, da die Folge ein „ewiger Sängerwettstreit der stärkeren Stimmen“ zwischen den Anhängern des alten und des neuen Textes wäre.
Heuss wollte das, was er in der Flaggenfrage abgelehnt hatte: ein Kunstprodukt, eine Neuschöpfung aus der Retorte. Er wollte den Weg der DDR gehen mit einem neuen Text und einer neuen Melodie und der Hoffnung, dass das Volk damit schon warm würde. Er orderte bei dem Dichter Rudolf Alexander Schröder einen Text und bat Carl Orff, diesen zu vertonen. Der Musikpädagoge und Komponist der „Carmina Burana“ antwortete sehr treffend. Er wies darauf hin, dass der Schröder-Text mit einer Nationalhymne so viel gemein habe wie eine Konzertarie mit einem Volkslied und es ihm schwer scheine, diesen „irgend geeignet zu vertonen“. Ihm zumindest scheine „diese Aufgabe unmöglich“. Er schlug vor, Schröders Text zu verwerfen, und verwies ansonsten auf seinen Frankfurter Kollegen Hermann Reutter als einen „ausgezeichneten, mit hymnischer Ausdruckskraft begabten Musiker“. Orff war klug genug zu wissen, wie schwer es war, mehr oder weniger auf Knopfdruck eine Melodie zu komponieren, die es mit jener Haydns aufnehmen konnte. Er warf deshalb vorsichtig die Frage auf, ob „sich nicht in unserer unsterblichen Klassik (Mozart oder Beethoven) ein Satz fände, der neben Haydn standhielte“.
Heuss hielt jedoch am Schröder-Text fest und beauftragte Reutter mit der Vertonung. Das Ergebnis war ein Stück, mehr Choral denn Nationalgesang. Am 31. Dezember 1950 ließ er die „Hymne an Deutschland“, so der Titel, seinem Volk im Anschluss an seine Silvesteransprache durch den Rundfunk präsentieren. Der Funke sprang nicht über. Der erfahrene Politiker der Weimarer Republik Carl Severing brachte es in seinem Schreiben an Heuss vom 8. Januar 1951 auf den Punkt, wenn er die Melodie als zu wenig lebhaft, warm und packend kritisierte und anschließend im Grunde in dieselbe Kerbe wie Carl Orff haute: „Dem Professor Heuss brauche ich nicht zu erzählen, dass man dramatische und lyrische Werke in der Tat ,auf Bestellung‘ schreiben kann und das nicht alle ,bestellten‘ Werke minderwertig zu sein brauchen. Aber eine Nationalhymne, die in das Volksbewusstsein eindringen soll, stellt höhere Anforderungen als zum Beispiel eine Festaufführung zur Einweihung des Suezkanals.“
Heuss’ Alternativvorschlag ließ sich ohne totalitäre Mittel nicht als Nationalhymne durchsetzen. Andererseits führte das Fehlen einer Nationalhymne für die Bundesrepublik auf internationalem Parkett zu immer kurioseren Peinlichkeiten. Im Ergebnis gab Heuss Adenauers Druck schließlich auf die denkbar formloseste Art nach. Mit Datum vom 29. April 1952 trug der Kanzler dem Präsidenten die „Bitte der Regierung“ vor, „das Hoffmann-Haydn’sche Lied als Nationalhymne anzuerkennen. Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden.“ Drei Tage später antwortete das Staatsoberhaupt dem Regierungschef: „Da ich kein Freund von pathetischen Dramatisierungen bin und mit mir selbst im reinen bleiben will, muss ich nach meiner Natur auf eine ,feierliche Proklamation‘ verzichten. Wenn ich also der Bitte der Bundesregierung nachkomme, so geschieht das in der Anerkennung des Tatbestandes.“