von Götz Egloff
Der Spielfilm Black Swan von Darren Aronofsky bildet in besonderer Weise die spätadoleszente Entwicklung der Protagonistin Nina mit ihren Anforderungen und ihren Schwierigkeiten ab. Doch nur wenige der zahlreich erschienenen Interpretationen dieses erfolgreichen Films betten diese in einen kulturpsychologischen Kontext ein. Das Lebensalter zwischen 15. und 25. Lebensjahr hält nicht nur ungewöhnlich viele Herausforderungen in der Entwicklung bereit, die Entwicklung selbst unterliegt gleichermaßen zeitlich-gesellschaftlich bedingten Einflüssen. So beginnt die Adoleszenz-Phase heutzutage nicht nur deutlich früher als noch vor wenigen Jahrzehnten, sondern sie dehnt sich oft bis weit über das Ende der Studien- bzw. Ausbildungszeit hinaus aus. Black Swan stellt gewissermaßen einen filmischen Entwicklungs- oder Bildungsroman wie z.B. Der Nachsommer von Adalbert Stifter (1857) oder Das Parfüm von Patrick Süskind (1985) dar. Als filmische Erzählung bewegt der Film sich in seiner mitunter surrealen Bildsprache nahe an Nacht und Traum, wie Dirk Blothner bemerkt; wobei Film sich im Gegensatz zu Malerei und Literatur ganz allgemein eigentlich näher an Tag als an Nacht und Traum bewegt. Black Swan erscheint hier an der Schnittstelle, doch deutlich in Richtung Nacht, Traum und Dunkelheit zu liegen.
Als angehende Primaballerina ist Nina (Natalie Portman) von ihren bislang vergeblichen Karriere-Bemühungen irritiert; sie wird von Alter-Ego-Bildern heimgesucht und entwickelt unheimliche Visionen, von denen nicht klar ist, ob sie real sind oder nicht. Ihr Perfektionismus kommt ihr immer wieder in die Quere; die Rolle des weißen und des schwarzen Schwans spielen zu können heißt für sie das Leben meistern zu können – doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Ihre innere Konfrontation mit ihrem aufkommenden Eros, ihrem Begehren und ihrem Erwachsen-sein-wollen, stößt stattdessen erst einmal auf innere und äußere Widerstände. Erst in der Begegnung mit der Kollegin Lily (Mila Kunis) als manifestem Alter-Ego-Bild von Nina und den dunkel-verführerischen Seiten von Thomas (Vincent Cassel), dem Regisseur der anstehenden Schwanensee-Inszenierung, kann sie die Notwendigkeit ihrer Selbstverwirklichung erahnen.
Während Nina tatsächlich die Chance auf die Hauptrolle bekommt und nun einen komplexen Prozess persönlicher und professioneller Weiterentwicklung durchlaufen muss, lauscht sie immer wieder Stimmen und Geflüster anderer Menschen. Ihre innere, noch nicht zu bewältigende Auseinandersetzung findet zunächst im Außen statt, also projiziert, um zunehmend diese in ihre Subjektivität, ihr Erleben und Handeln einbetten zu können. Ninas vorläufiges Getrennthalten ihrer Persönlichkeitsanteile steht in Korrelation mit den noch nötigen Angstbeträgen, diese in ihre Persönlichkeit zu integrieren. Langsam, aber stetig wird Nina entwicklungsgerecht verführt durch ihren eigenen dunklen Anteil – und immer dann ruft ausgerechnet Mom an… Der Triebdurchbruch jedoch mittels Droge und Musik (Chemical Brothers: “Don´t Think!“) bleibt nicht aus. Der Trip führt Nina zu ekstatischem Küssen von Fremden, wildem Tanzen und einer homoerotischen Als-Ob-Begegnung mit Lily. Als Rückverweis auf Kindheit und Transformation erklingt dann schon einmal ein „sweet girl“, ein motivisches, durch Nina halb-verinnerlichtes ehemaliges Klein-Mädchen-Lob durch ihre Mutter.
Aus kulturpsychologischer Perspektive dürfte Ninas Mutter den Erziehungs- und Sozialisationsmodus des ausgehenden 18. bis 19. Jahrhunderts bezüglich ihrer Tochter gelebt haben, der in erster Linie Anpassung, Disziplin und Einordnung erfordert. Die Ikarus-Statue, die Nina im Film umschreitet und die zu mahnen scheint, sich nicht zu weit von der Mutter zu entfernen, ist sicherlich als Angstbild dieser Erfahrungen sowie des anstehenden Transformationsprozesses zu verstehen. Bedenkt man eben diese sozialisatorische Dimension, so wird klar, dass Autonomie für Nina das vornehmste Entwicklungsziel darstellen muss, um sozusagen im späten 20. Jahrhundert bzw. frühen 21. Jahrhundert anzukommen. Entlang der an Hitchcock-Filmen von Slavoj Žižek entwickelten Differenzierung von Subjektivität im gesellschaftlichen Gefüge, die den Narziss der neoliberalen Postmoderne zuordnet, während in Zeiten des Staatskapitalismus die Zerstörung des autonomen Subjekts gängiger Topos war, so lässt sich für die Zeit eines frühen, im klassischen Sinne liberalen Kapitalismus die Autonomieentwicklung des Subjekts als entscheidendes Motiv betrachten. Auf letzteres hin ist Nina psychosozialisiert; und der Film selbst verschreibt sich am ehesten einem klassisch modernen, surreal versetzten Romantopos.
Ob Nina letztendlich den weißen und den schwarzen Schwan tanzen können wird, steht am Ende des Autonomie-Prozesses, des Prozesses der Ablösung aus infantilen Bindungen. Nur wenn das Abhängigkeitserleben Ninas gewichen sein sollte, sie sich aus der Erziehungssituation emanzipieren konnte, wird ihr der entscheidende Schritt gelingen. Der Film lädt also jenseits von seinem hohen Unterhaltungswert ein, über grundlegende Bedingungen von Kindheit, Jugend und Erwachsenen-Alter nachzudenken.
Leicht veränderte Auszüge aus dem Beitrag von Egloff G./Gioeni P. „Einbruch des Eros. Black Swan als psychosexueller Entwicklungsroman“, erschienen in Langendorf U./Kurth W./Reiss H.J./Egloff G. (Hg.) „Gespaltene Gesellschaft und die Zukunft von Kindheit“, Jahrbuch für psychohistorische Forschung 14, Mattes-Verlag, Heidelberg.