Als Preußen seiner Auflösung nur knapp entging

Vor 200 Jahren wurde der Frieden von Tilsit unterzeichnet
Von Manuel Ruoff
Unerbittlich hatten die Franzosen nach der den Vierten Koalitionskrieg entscheidenden Schlacht von Friedland vom 14. Juni 1807 die verbündeten Russen und Preußen durch Ostpreußen vor sich her getrieben, bis diese sich hinter die Memel ins Memelland zurückgezogen hatten. Mit dem Fluß hatten Napoleons Truppen das letzte natürliche Hindernis vor dem Zarenreich erreicht. Überschritten sie nun auch noch die Memel, lag das russische Baltikum schutzlos vor ihnen. Eine Fortsetzung des Vierten Koalitionskrieges auf russischem Boden und damit ein Kampf Rußlands um die eigene territoriale Integrität wollten zu diesem Zeitpunkt jedoch weder der Kaiser der Franzosen noch der russische Zar Alexander I.
Napoleon hatte im Vierten Koalitionskrieg gerne gegen die Russen gefochten, um ihnen seinen eigenen Wert als Verbündeter plastisch vor Augen zu führen, doch im Gegensatz zu Preußen, dessen König er wegen dessen Entscheidungsschwäche verachtete, wollte er Rußland (noch) nicht erobern. Der Franzose betrachte Rußland nicht als seinen Hauptgegner. Vielmehr versuchte der Kaiser, den Zaren auf Kosten Preußens und auch Schwedens als Verbündeten gegen seinen vermeintlichen Hauptgegner Großbritannien zu gewinnen.

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Auch Alexander war an einer Fortsetzung des Kampfes nicht interessiert. Der Gegner hatte ihm in der Schlacht von Friedland den Schneid abgekauft. Der Kampfgeist, der ihn zuvor beseelt hatte, und der Glaube an den Sieg waren dahin. Zudem fürchtete er um die Stabilität seines Regimes. „Unter uns gesagt, im Notfalle gibt es nur eine Stimme: Pahlen!“ hieß es nun in seiner Generalität. Das war eindeutig, denn Peter von der Pahlen war einer der Hauptverschwörer bei der Ermordung von Alexanders Vater und Vorgänger auf dem Thron, Zar Paul, gewesen. Die Forschung geht davon aus, daß die schließlich zum Tod führende Aktion gegen den Vater mit stillschweigendem Einverständnis des Sohnes geschehen ist, was gerne zur Erklärung von dessen unbestreitbarer Labilität und Wankelmütigkeit herangeführt wird.
Napoleon war bereit, Alexander eine goldene Brücke zu bauen. So sollte er für die Einstellung der Kämpfe und die Beteiligung an der gegen Großbritannien gerichteten Kontinentalsperre Ruhe an der Balkanfront, das zu Schweden gehörende Finnland sowie schließlich Preußisch-Polen erhalten. Den Rest Preußens wollte Napoleon in seinen Herrschaftsbereich integrieren. Alexander beging insoweit einen Verrat an seinem preußischen Verbündeten, als er mit dem gemeinsamen Gegner einen Separatfrieden auf Preußens Kosten schloß. Andererseits war es dem russischen Zaren zu verdanken, daß wenigstens ein Rest Preußens selbständig blieb. Auch verzichtete er auf Preußisch-Polen.
Das so Napoleon zur Verteilung an jemand anderen zur Verfügung stehende Territorium sollte nun der zum König aufgewertete Kurfürst von Sachsen als eigenständiges Fürstentum erhalten. Das war nicht ungeschickt. Indem der Korse dem Sachsen dieses große Stück Preußen zuschanzte, nährte er die traditionelle Rivalität zwischen Preußen und Sachsen und stärkte dabei Preußens Rivalen. Um Rußland zu schonen und keine Anschlußgelüste in Russisch-Polen zu wecken, verzichtete Napoleon auf die Bezeichnung „Königreich Polen“ für das neue Fürstentum und wählte statt dessen den Namen „Herzogtum Warschau“. Wenn Alexander auch auf Preußisch-Polen verzichtete, so setzte Napoleon doch durch, daß Rußland wenigstens das preußische Bialystok annektierte, um das preußisch-russische Verhältnis durch diesen Besitzerwechsel zu belasten.
Preußens Territorien westlich der Elbe hingegen beanspruchte Bonaparte für seinen Herrschaftsbereich. Hier ist vor allem das für seinen Bruder Jérôme Bonaparte neu geschaffene Königreich Westphalen zu nennen. Nur der Teil Preußens zwischen Elbe und Herzogtum Warschau – und das noch nicht einmal vollständig – sollte preußisch bleiben.
Diese Vorstellungen drohten Preußen von einer Großmacht zu einer zweit- oder gar drittrangigen Macht zurückzustufen. Angesichts dessen verwundert es nicht, daß Preußen an den Verhandlungen nicht maßgebend beteiligt war. Napoleon machte aus seiner Verachtung für Friedrich Wilhelm III. überhaupt keinen Hehl. Preußen war für Bonaparte Verhandlungsgegenstand, nicht Verhandlungspartner, das war Rußland.
Am 21. Juni 1807 war zwischen dem Kaiser- und dem Zarenreich ein Waffenstillstand geschlossen worden. Vier Tage später begannen auf einem französischen Floß auf dem Grenzfluß zwischen dem russisch(-preußischen) und dem französischen Machtbereich, der Memel, bilaterale Gespräche zwischen den beiden Herrschern. Währenddessen wartete der zur Untätigkeit verdammte Friedrich Wilhelm III. umgeben von russischen Offizieren und eingehüllt in einen russischen Mantel im strömenden Regen das Ergebnis der Unterredungen über die Zukunft seines Königreiches am Memelufer ab. Am nächsten Tag durfte er dann dabei sein, aber mehr als Staffage, denn als Akteur.
Angesichts dieser offen zur Schau gestellten Verachtung Napoleons für den König, fiel Preußens Politik nichts Besseres ein, als der für ihren Charme und ihre Anmut bekannten Königin Luise zuzumuten, sich an ihres Mannes statt beim Sieger für Preußen zu verwenden. Es spricht für die Größe dieser Preußenkönigin, die den Bezwinger ihres Volkes wie wohl kein anderes Mitglied des preußischen Königshauses ablehnte, daß sie sich um ihres Landes willen dieser Selbstdemütigung aussetzte.
Welche Überwindung Luise die Begegnung mit Napoleon kostete, wissen wir von ihrem Leibarzt („Nie werde ich den Moment vergessen, wo die edle Königin den Befehl vom König erhielt, auch nach Tilsit zu kommen, um womöglich noch vorteilhaftere Friedensbedingungen von Napoleon zu erhalten. Dies hatte sie nicht erwartet. Sie war außer sich. Unter tausend Tränen sagte sie: ,Das ist das schmerzhafteste Opfer, das ich meinem Volke bringe, und nur die Hoffnung, diesem dadurch nützlich zu sein, kann mich dazu bringen.‘“) sowie aus ihrem eigenen Tagebuch („Welche Überwindung es mich kostet, das weiß mein Gott! Denn wenn ich gleich den Mann nicht hasse, so sehe ich ihn doch als den an, der den König und sein Land unglücklich gemacht. Seine Talente bewundere ich, aber seinen Charakter, der offenbar hinterlistig und falsch ist, kann ich nicht lieben. Höflich und artig gegen ihn zu sein, wird mir schwer werden. Doch das Schwere wird einmal von mir gefordert, Opfer zu bringen bin ich gewohnt.“)
Am 6. Juli 1807 traf die Königin in Tilsit ein. Noch am selben Abend war sie Gast des Kaisers. Nach einem gemeinsamen Abendmahl kam es zu einer längeren Konversation, deren Verlauf Luise zu den größten Hoffnungen Anlaß gab. In der Tat muß Napoleon wohl wirklich von der anmutigen Königin beeindruckt gewesen sein, doch war der Mann Staatsmann genug, um am nächsten Tag deutlich zu machen, daß diese Begegnung an seinem Vorhaben bezüglich Preußens nichts ändere. Am 7. Juli 1807 unterzeichneten Frankreich und Rußland ihren Tilsiter Frieden. Seines russischen Verbündeten beraubt, sah Preußen keine Alternative dazu, zwei Tage später am selben Ort einen inhaltlich mit dem vorausgegangenen russisch-französischen übereinstimmenden preußisch-französischen Frieden zu schließen. Von seinen einstmals 300000 Quadratkilometer Fläche und seinen neun Millionen Einwohnern verlor Preußen je die Hälfte. Es war zusammengestutzt bis auf die Provinzen Brandenburg, Pommern, Preußen und Schlesien. Und selbst die blieben vorerst französisch besetzt. Das Datum des Besatzungsendes blieb wie die Höhe der Kontributionen bis auf weiteres unbekannt.