von Götz Egloff
Rezension zu Ulrich Schultz-Venrath, Lehrbuch Mentalisieren – Psychotherapien wirksam gestalten, Klett-Cotta, Stuttgart, 2013.
Ein beeindruckendes Kompendium zum Themenkomplex des Mentalisierens legt Ulrich Schultz-Venrath vor. Im theoretischen Teil zeichnet der Autor die Entwicklung des Konzepts aus der französischen psychosomatischen Schule, über das Alexithymie-Konzept, hin zur Fonagy-Gruppe nach, gewahr der verschiedenen Betonungen körper-orientierter Ansätze. Der praktische Teil bietet reichhaltige Ausarbeitungen und Beispiele nicht nur zu verschiedenen Störungsbildern, sondern in verschiedensten therapeutischen Settings. Deutlich wird immer wieder die Grundlage der psychoanalytisch-interaktionellen Methode des Göttinger Modells (Heigl/Heigl-Evers, König), die letztlich auch den Weg zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) bahnte.
Crits-Christoph, Luborsky, Gabbard fallen spontan ein, pragmatische Analytiker; allen voran Sullivan mit seiner leider weithin vergessenen, doch brillanten interpersonellen Psychoanalyse.
Die Modifikation der psychoanalytischen Technik, die in der Behandlung von sogenannten Kriegsneurotikern ihren Ausgang nahm, verweist einerseits auf die Notwendigkeit einer adäquaten Therapie sogenannter mäßig bis gering strukturierter Patienten, andererseits begünstigt sie ebenso die Verschleierung soziopsychologischer Phänomene, in denen sich gesellschaftlich-historische Entwicklungen im Subjekt niederschlagen. Der kursorische Hinweis auf Christopher Laschs Gesellschaftsbeschreibung als narzisstisch dient hierfür als Chiffre.
Keine Frage ist: der Autor zeigt eine außergewöhnliche Bandbreite, und er hat eine Schreibe, und es ist ein Buch für die Praxis. Die dargestellten minutiösen Transskripte sind höchst anschaulich, ja illustrieren das Mentalisierungs-Konzept ganz hervorragend. Damit scheint sich vorerst das Werk jedweder Kritik zu entziehen. Es ist in sich stimmig, und sicher werden viele Patienten von diesem Ansatz profitieren, so geradezu rational, ja realistisch kommt er daher. Doch wo ist eigentlich der Anti-Realismus, das utopische Element?
So stellen sich im Verlauf Fragen über Fragen, und man darf zum Ergebnis kommen, dass mit jeder neuen hoch spezialisierten Therapieform – innerhalb kürzester Zeit kommen zur Zeit Manuale für jede zweite Störung an die Öffentlichkeit – die Verschattungen zu- und nicht abnehmen. Ist das nun die hoch individualisierte Therapie, die unter dem Stichwort der Personalisierung Vielversprechendes ankündigt? Oder die Hysterisierung der Therapie-Szene, der Tribut an den ultra-beschleunigten Zeitgeist? Therapeuten als marketing victims? Als treibende Kraft der virtuellen Zerfaserung der Patientenidentitäten, die auf der Störungspalette, von der schweren Wahnstörung über die Idiosynkrasie bis zur leichten Missempfindung, ein zugeschneidertes, personalisiertes Gesprächsmodul im Warenkorb vorzufinden hat? Es scheint, dass – übersetzen wir den Begriff des Kriegsneurotikers in heutige Terminologie – wir es aus Sicht des Mentalisierungs-Konzepts mit einer Patientenpopulation von Traumatisierten zu tun haben, die mithilfe von psychosozialer Technologie wiederherzustellen ist. Aber woher kommen die Traumatisierten, die Analphabeten der Empfindungen, in der alternativlosen aller Welten? Eine Bestandsaufnahme gehört in jedes Lehrbuch, das sich mit Psyche beschäftigt. Die kulturelle Verfasstheit psychischen Erlebens scheint längst souverän in Vergessenheit geraten zu sein. Dass stattdessen mit dem letzten Kapitel ein inzwischen obligatorisches Zugeständnis an die Management- und Coaching-Szene gemacht wird, ist ärgerlich und überflüssig. Muss es sein, dass nahezu die gesamte Therapie-Szene sich mittlerweile in den Dienst jeder noch so obskuren human resources-Technologie stellt, ohne den eigenen Standpunkt je geklärt zu haben?
So hat J. Webster kürzlich nochmals auf die individuell höchst unterschiedlichen Lösungswege von Patienten hingewiesen und v.a. die Bewegung des Suchens als konstitutive menschliche Lebensbedingung hervorgehoben. Sie erinnert damit an die psychoanalytische Ethik des Offenen, im Gegensatz zur Geschlossenheit der „orthopedic therapeutics“(*), die bereits vorher weiß, was richtig ist und was nicht, und mit der das Wissen der Psychoanalyse von deskriptiv hin nach proskriptiv verschoben wird. Anzufügen ist: dies zumal nicht etwa auf gesellschaftlich-emanzipatorischer Ebene, sondern meist klein-klein und ganz privat. Gewiss muss im klinischen Alltag pragmatisch und zügig interveniert werden, aber es geht eben nicht nur um Hier, Jetzt und Im-Moment.
Gewiss wird so gearbeitet, kann und soll, wenn Indikation besteht. Klassische Psychoanalyse bleibt also den sogenannten wenigen hochstrukturierten Patienten, den Neurotikern, vorbehalten, oder überlassen. Nicht mehr und nicht weniger. So bleibt die zentrale Frage nach dem Warum unbeantwortet. Eine anthropologisch-soziologische Einbettung des Mentalisierungs-Konzepts wäre sowohl ätiologisch als auch therapeutisch-pragmatisch wünschenswert gewesen. Deutlich wird aber auch: Schultz-Venraths Werk bietet in praxi ein Maximum an Handreichung für psychodynamische Therapien in unterschiedlichen Settings. Sehen wir also Empfindungen als höchst individuelle Leistungen des Subjekts im intrapsychisch-interaktionellen Gefüge und entledigen uns weitgehend des sozio-kulturellen Kontextes, so ist dem 450-Seiten-Schwergewicht sehr viel abzugewinnen. Die Beschäftigung mit Schultz-Venraths Lehrbuch ist daher zu empfehlen.
*Webster, Jamieson (2012). Freud, Lacan, and the Psychoanalytic Value of the Open. In: The American Psychoanalyst (46) 3: 14/34. American Psychoanalytic Association, New York.