Dieser Artikel wurde bereits in diesem Jahr veröffentlicht in der PAZ,
in Schleswig-Holstein am Sonntag, in der Neuen Woche in Sydney/Australien
und im Raushier Reisemagazin
von Uta Buhr
Dem Reiz der Deutschen Fachwerkstraße kann sich keiner entziehen. Sie verläuft über 3.000 Kilometer und erstreckt sich von der Elbe im Norden bis zu den Gestaden des Bodensees im Süden der Republik. 1990 gegründet, schließt sie heute hundert Fachwerkstädte zusammen – allesamt historische Orte, randvoll mit alter Bausubstanz und reich an Geschichte.
Angesichts der Fülle an Sehenswürdigkeiten fällt die Auswahl schwer. Mit seinen über 450 Fachwerkhäusern – manche aus dem 15. Jahrhundert – und dem Renaissanceschloss ist das niedersächsische Celle ein idealer Ausgangspunkt für eine Tour kreuz und quer über die Fachwerkstraße, auf die wir uns an einem sonnigen Herbsttag aufmachten.
Erster Halt nach Celle ist das das romantische Einbeck, die Heimat des Bockbieres, bis heute von echten Kennern des Gerstensaftes hoch geschätzt. Zum Beispiel vom Biertrinker und –kenner Martin Luther, der Folgendes zu diesem unvergleichlichen Gerstensaft bekannte: „Der beste Trank, den einer kennt, der wird Einbecker Bier genennt.“ Ein größeres Kompliment ist nicht denkbar.
Auch Wernigerode, wegen seiner farbenfrohen Häuser die „bunte Stadt am Harz“ genannt, ist einen Besuch wert. Als besonderer Leckerbissen für Freunde der Fachwerkarchitektur gilt Melsungen, das auf eine über tausendjährige Geschichte zurückblickt, die als „burgus“ um das Jahr 1154 begann. Strahlender Mittelpunkt ist das wie eine Postkartenidylle anmutende, in explodierendem Rot leuchtende Rathaus mit dem eleganten Torbogen über einer zierlichen Freitreppe. Trotz der Zerstörungen im Dreißigjährigen und später im Siebenjährigen Krieg sowie zahlreichen Bränden in früheren Jahrhunderten präsentiert sich Melsungen heute als Gesamtkunstwerk einer gelungenen Stadtplanung, die speziell bei Stadtmenschen nostalgische Gefühle hervorruft. Das Städtchen verbindet Historie mit modernem Komfort auf das Trefflichste. Neben bequemen Herbergen seien noch die zahlreichen Boutiquen, Cafés und urigen Gaststätten erwähnt, die den Aufenthalt in den Mauern dieser historischen Stadt unwiderstehlich machen.
Ein Schlenker und weiter geht die Fahrt in Richtung Süden. Einer der schönsten Orte auf der Route liegt an den Ufern des Mains. „Selig sei die Stadt genannt, da ich meine Tochter wiederfand“, soll Karl der Große ausgerufen haben, als er Emma wiedererkannte, die gegen seinen Willen einst den wenig betuchten Gelehrten Einhard geehelicht hatte. Seitdem heißt der Legende zufolge dieses Bilderbuchstädtchen Seligenstadt. Wie auf einer Perlenschnur reiht sich ein vorbildlich restauriertes Fachwerkhaus an das nächste. Stolz erheben sich die Türme der in karolingischer Zeit im 9. Jahrhundert aus dem rötlichen Sandstein der Region erbauten Basilika. Besondere Beachtung verdient das „Romanische Haus“ von 1187. Nomen est omen. Die Seligenstädter sind ein fröhliches Völkchen, das das Leben in vollen Zügen genießt. In dieser kleinen aber feinen Stadt werden die Bürgersteige nicht um 18 Uhr hochgeklappt!
Das kulturelle Highlight im Neckar-Odenwald Kreis heißt Mosbach. Entstanden ist das heute 25.000-Seelen-Städtchen rund um das im 9. Jahrhundert erbaute Benediktinerkloster „Monasterium Mosabach.“ Der Ort ist randvoll mit prächtigem, liebevoll restauriertem Fachwerk. Besonders ansehnliche Exemplare sind das mit reichen Ornamenten geschmückte Palm’sche Haus von 1610 am Rande des Marktplatzes, das als einer der Höhepunkte der Renaissancearchitektur gilt, sowie die „Alte Posthalterei“ an der Heidelberger Straße. Doch das ist noch lange nicht alles. Die spätgotische Simultankirche lohnt ebenso eine eingehende Besichtigung von außen und innen wie das Mitte des 16. Jahrhunderts errichtete Rathaus. Kein Zweifel, Mosbach zählt zu den schönsten Fachwerkstädten Deutschlands. Rudolf Landauer, ein leidenschaftlicher Experte der Fachwerkarchitektur, hat ein bemerkenswertes, schön bebildertes Buch über Mosbach verfasst, das nicht nur die Bauten in den Mittelpunkt rückt, sondern im Anhang die Mosbacher Fachwerkelement akribisch in Wort und Bild erklärt. Wer bislang noch nicht wusste – und wer kann das schon behaupten – was ein Schmuck-Andreaskreuz ist oder wie ein fränkischer Fenstererker aussieht, erfährt es aus diesem bemerkenswerten Buch. Wer sich nun an Fachwerk und Historie satt gesehen hat, wird gern die 120 km langen Rad- und Wanderwege durch die unberührte Landschaft rund um Mosbach oder den blühenden Landesgartenschau-Park im Weichbild der Stadt für eine Entspannungspause nutzen.
Szenenwechsel. Das Fachwerk Erlebnishaus im thüringischen Schmalkalden klärt den Laien über die Konstruktion eines Fachwerkhauses auf. Besonderes Augenmerk gilt dessen „Innereien.“ Ein Lehm-Strohgemisch, zumeist auf Holzgeflecht, dämmt die Gebäude wesentlich effizienter als die leicht entflammbaren Materialien unserer Tage. Stolze 1140 Jahre zählt dieses fränkisch geprägte Freilichtmuseum, dessen reich mit prächtigem Fachwerk bebaute Altstadt 2009 zu Recht mit dem Nationalen Preis für Baukunst ausgezeichnet wurde. Ihren einstigen Wohlstand verdankte die Stadt ab dem 14. Jahrhundert großen Eisenerzvorkommen vor ihren Toren. „So friedlich wie heute ging es hier nicht immer zu“, sagt Norbert Hospes, Gästeführer und Chronist Schmalkaldens. „1530 schlossen sich die protestantischen Stände im Schmalkaldischen Bund gegen Kaiser Karl V. zusammen.“ Da gab es reichlich Zoff zwischen Lutheranern und Katholiken! Im Mittelpunkt des Interesses steht das „Lutherhaus“, in welchem der von Nierensteinen geplagte Reformator 1537 zur wichtigsten Tagung des Schmalkaldischen Bundes residierte und seine berühmten „Schmalkaldischen Artikel“ präsentierte. 1580 wurden diese als Bekenntnisschrift der evangelischen Kirche anerkannt, auf die bis auf den heutigen Tag alle evangelisch-lutherischen Pfarrer ordiniert werden.
Kaum sind die Buden des märchenhaften Weihnachtsmarktes abgeräumt, rüstet sich die Stadt für das Reformationsjahr 2017, das Megaevent des Jahres. Dieses dürfte Ströme von Besuchern aus allen Teilen der Welt in die Mauern Schmalkaldens locken. Erinnern wir uns an den Ursprung der Reformation; Der Legende nach soll der Augustinermönch Martin Luther am 31. Oktober im Jahres des Herrn 1517 seine 95 Thesen – die „Disputatio pro declaratione vertuis indulgentiarum – mit dem Hammer an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg geschlagen haben. Er verdammte darin explizit den kommerziellen Handel mit Ablassbriefen. Wenn die Realität auch wesentlich banaler war – Luther legte seine Thesen in lateinischer Sprache in einem Brief nieder, den er an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg richtete – so mündeten die kraftvollen Worte des Reformators ein Jahrhundert später in den Dreißigjährigen Krieg, der Europa in eine Wüstenei verwandelte. Auch viele der an der Fachwerkstraße gelegenen Orte wurden bis auf die Grundmauern zerstört.
Während wir an herbstlich bunt gefärbten Wäldern vorbeifahren, nähern wir uns unserem nächsten Ziel: Mühlhausen. Diese zum Teil noch von einer trutzigen mittelalterlichen Stadtmauer umschlossene ehemalige Reichsstadt prunkt mit einer Fülle einzigartiger Fachwerkhäuser, sakraler und profaner Bauten. Das Schmuckstück schlechthin ist das auf eleganten Rundbögen ruhende Poppenhäuser Brunnenhaus. In der spätgotischen Marienkirche predigte weiland Thomas Müntzer, der Anführer der aufmüpfigen Bauern, die 1525 gegen die Obrigkeit rebellierten. Zur Erinnerung an diesen Aufstand findet im „Museum Deutscher Bauernkrieg“ bis zum 31. Oktober 2017 die Ausstellung „Luthers ungeliebte Brüder“ statt. Übrigens – Martin Luther, zu Anfang ein Befürworter des Aufstandes, distanzierte sich später von der Revolte und rief gar dazu auf, die Bauern wie Hunde zu erschlagen. Auf Müntzer und die armen Bauern wartete nach der Niederschlagung ihres Aufstandes ein schreckliches Schicksal. Besonders grausam rächte sich die Obrigkeit an Müntzer, der nach der Folter öffentlich verbrannt wurde. Aber wenden wir uns etwas Schönerem zu, den Spuren, die Johann Sebastian Bach im Mühlhausen hinterließ. Von 1707 bis 1708 wirkte er als Organist an der im gotischen Stil erbauten Hauptkirche der Unterstadt. Heiß begehrt sind die Konzerte auf der von Bach selbst konzipierten Orgel.
Heute heißt es auf in das von den bewaldeten Hügeln des Westerwaldes umschlossene Fachwerkstädtchen Dillenburg, auch Stadt der Oranier genannt.
Schon aus der Ferne grüßt der Wilhelmsturm, der über dem Schlossberg zu schweben scheint. Er wurde zu Ehren Wilhelms I., des Gründers der Niederlande, erbaut. Dieser erblickte im Jahre 1533 hier das Licht der Welt. Wer unter Klaustrophobie leidet, sollte den Gang durch die Kasematten meiden. Alle anderen werden den Ausflug in die „Unterwelt“ mit ihrem 62 Meter tiefen Brunnen in der „Löwengrube“ gewiss mit wohligem Schauer genießen.
Der besondere Reiz Dillenburgs liegt sowohl in der Altstadt, wo sich ein anmutiges Haus an das nächste schmiegt, als auch in seiner Nähe zu Wanderwegen, die das Herz eines jeden Naturliebhabers höher schlagen lassen. Rothaarsteig, Westerwaldpfad sowie Lahn-Dill-Berglandpfad laden zu ausgedehnten Exkursionen ein. Ein veritables Kontrastprogramm zu Fachwerk und Wandern ist das Hessische Landgestüt im Weichbild der Altstadt. Hinter dem frisch sanierten eleganten Prinzenhaus öffnet sich ein Barockgarten. Nebenan vernimmt der Besucher das Schnauben von edlem Vollblut. Mehr geht nicht.
Aber was wäre eine Tour über die Deutsche Fachwerkstraße ohne einen Abstecher in die Brüder-Grimm-Stadt Steinau an der Straße?
Ja, was wäre unsere Geschichte denn ohne die bis in die äußersten Ecken der Welt verbreitete Märchensammlung von Wilhelm und Jacob Grimm? Geboren wurden beide in Hanau. Aber sie verbrachten mehrere Jahre ihres Lebens in Steinau, dem romantischen, zum Teil noch mittelalterlich anmutende Städtchen, das durch seine zauberhafte Fachwerkarchitektur und sein wuchtiges Renaissanceschloss besticht. Das Haus, in dem beide Brüder von 1791 bis 1798 lebten – heute Museum – bildet den Fokus ihres Schaffens. Das mit viel Fachwissen liebevoll eingerichtete Museum weist den Besucher in die Lebenswelt der Familie Grimm in allen ihren Facetten ein. Märchenhaft geht es zu in den Räumen. Hier begegnet man Schneewittchen, Rotkäppchen und dem Wolf, einem naturgetreu nachgebildeten „Kuscheltier“, dem nicht nur Kinder gern das Fell streicheln. Auch ein Spielzimmer für kleine und große Kinder ist vorhanden, in dem sich jeder nach Gusto das vergoldete Krönchen des „Froschkönigs“ aufsetzen kann. Der Faszination der Grimmschen Märchen konnte sich auch ein zeitgenössischer Künstler wie David Hockney nicht entziehen. So dämonisch wie die böse Fee aus „Rapunzel“, so eisig wie den „Gläsernen Berg“ hat noch kein Künstler die Grimmschen Märchen ins Bild gesetzt. Das Wohnhaus der Brüder Grimm in Steinau mit dem vorgesetzten Turm erinnert im Übrigen lebhaft an die unglückliche Königstochter „Jungfrau Maleen“, die lange Jahre mit ihrer Kammerzofe in einem hohen Turm ihr Leben fristen musste, bis ein Prinz sie aus ihrem Verlies befreite. Und bis heute sollen die Kinder, die an der (fiktiven) Turmruine vorbeigehen, noch singen: „Kling klang kloria, wer sitt in diesen toria? Dar sitt en Königsdochter in, die ik nich to seen krygn. De Muer, de will nich bräken, de Steen, de will nich stechen. Hänschen mit de bunte Jak, kumm und folg my achterma.“ Eines ist sicher: Nicht nur ausgebuffte Romantiker lassen sich vom Grimm-Haus verzaubern. Die Ausstellung „Hänsel und Gretel im Märchenwald“, die bis zum 19. März ds Js.lief, war ein voller Erfolg. Die beiden Protagonisten sind mit Abstand die bekanntesten Figuren der Feder der Brüder Grimm. Generationen weltweit haben mit den beiden Helden gelitten bis zum glücklichen Ende. Fazit: Steinau an der Straße ist im wahrsten Sinne des Wortes „zauberhaft.“
Kontakt:
Deutsche Fachwerkstraße
Propstei Johannesberg
36o41 Fulda
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