erschienen in der PAZ
Von Dr. Manuel Ruoff
Der »hinkende Teufel« Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord arbeitete für viele Herren – aber es gibt auch Konstanten
Wohl kaum ein anderer Politiker hat derart viele Regimewechsel politisch überlebt wie Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Ihm halfen dabei sein diplomatisches Talent und sein Sarkasmus, um nicht zu sagen Zynismus. Das Desinteresse an Ethik und Moral dieses – um es positiv zu formulieren – Realpolitikers zeigt das ihm zugeschriebene Wort: „Das war schlimmer als ein Verbrechen – es war ein Fehler.“
Wenn Talleyrand auch im Gegensatz zu Josef Stalin Mäßigung auszeichnete, so verbindet die beiden doch, dass ihnen ein mehr oder weniger ausgeprägter Zynismus eigen war und beide zumindest zeitweise ein Priesterseminar besucht haben. Im Falle des am 2. Februar 1754 in Paris geborenen Franzosen war die Entscheidung hierzu aus der Not geboren. Seine Eltern waren zwar von Adel, aber auch arm und der Weg ins Militär war ihm zu seinem Leidwesen durch seinen Klumpfuß verbaut. Dieser hatte – so Talleyrand in seinen Memoiren – seine Ursache in der Unachtsamkeit einer Pflegerin, die ihn als Kleinkind von einer Kommode fallen ließ. Es folgten die vier schönsten Jahre seiner Kindheit bei einer Urgroßmutter, bis er auf das Collège d’Harcourt kam, wo er die nächsten fünf Jahre verbrachte.
Gegen seinen Willen folgten anschließend die Ausbildung und das Dasein eines Geistlichen. Keuschheit war ihm fremd und so verlief seine Karriere für einen Angehörigen des Adels ziemlich schleppend. Dank eines Onkels wurde er 1780 Generalagent des französischen Klerus. Dieses Amt kam ihm entgegen, da zu ihm weltliche Verwaltungsaufgaben gehörten. Mit 31 Lebensjahren wurde er dann endlich Bischof, aber das auch nur, weil sein Vater König Ludwig XVI. auf dem Sterbebett um diesen letzten Gunstbeweis gebeten hatte.
Talleyrands Chance, sich als Geistlicher in der Politik, seinem Metier, zu betätigen, schlug, als der französische König 1789 die Generalstände einberief. Der Franzose und Geistliche, dessen Biografie eine gewisse Affinität zu den Briten wie ein roter Faden durchzieht, kandidierte hierfür mit einem liberalen Programm und Erfolg.
Talleyrand schwebte eine konstitutionelle Monarchie mit zwei Kammern nach britischem Vorbild vor. Nach dem Ausbruch der Revolution wechselte er aus seinem Zweiten in den Dritten Stand und der aus jenem hervorgegangenen Nationalversammlung. Klar entschied er sich gegen die Kirche und für den sich neu ausbildenden französischen Nationalstaat, und wenn man Talleyrand überhaupt ein Ideal unterstellen will, dann war es sicherlich Frankreichs Größe. Dafür war Talleyrand auch bereit, den Bruch mit seinem Papst in Kauf zu nehmen. Er sprach sich für die Verstaatlichung von Kirchengut aus und band sich per Eid an den französischen Staat. Für Talleyrand hatte das zur Folge, dass sich nun die Kirche von ihm trennte. Pius VI. enthob ihn seiner geistlichen Ämter und exkommunizierte ihn sogar.
Talleyrand gehörte zur alten Elite, ohne durch diese kompromittiert zu sein, und stellte sich im Laufe der Revolution glaubhaft auf den Boden der neu entstehenden Ordnung. Er stieg in der Revolution auf, wurde eines ihrer Kinder. 1790 wurde er schließlich Präsident der Nationalversammlung.
Als Freund des Maßhaltens war ihm die sich abzeichnende jakobinischen Schreckensherrschaft des Wohlfahrtsausschusses zu extrem. Er ließ sich mit einer diplomatischen Mission betrauen, um Frankreich 1792 legal verlassen zu können. Als Exilort wählte er als erstes die große Insel auf der anderen Seite des Kanals. Doch dort machten die bereits vorher dorthin geflohenen Anhänger des Ancien Régime gegen ihn mobil und so reiste er in die USA weiter.
Nach dem Ende des Großen Terrors (Grande Terreur) kehrt Talleyrand 1796 in die Heimat zurück. Zur Zeit des Direktoriums wird er dessen Außenminister. Er erkennt jedoch, dass nicht diesem, sondern Napoleon Bonaparte die Zukunft gehört, und tritt wenige Monate vor dessen Staatsstreich des 18. Brumaire VIII (9. November 1799) zurück.
Nur wenige Wochen nach seinem erfolgreichen Putsch macht Bonaparte Talleyrand zu seinem Außenminister. So wie Talleyrand Bonapartes Talent erkennt, erkennt umgekehrt auch Bonaparte Talleyrands: „Talleyrand ist durch seine Eigenschaften geradezu prädestiniert für das Führen von Verhandlungen. Er versteht die Welt; er kennt die Höfe Europas durch und durch; er besitzt Finesse, um es bescheiden auszudrücken; er zeigt nie, was er denkt; und schließlich trägt er auch einen großen Namen.“
Es begannen Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit. Beide Franzosen wünschten ein größeres Frankreich. Im Gegensatz zu Bonaparte wollte Talleyrand jedoch maßhalten. In dieser Beziehung Otto von Bismarck sehr ähnlich, wollte er sein Land nur so weit vergrößern, wie es den anderen Großmächten mit dem europäischen Gleichgewicht noch vereinbar erschien. Mit dem Frieden von Amiens, der 1802 den Zweiten Koalitionskrieg beendete, war diese Grenze in Talleyrands Augen erreicht. Immerhin war es in Amiens gelungen, das traditionelle Ziel französischer Außenpolitik zu erreichen, das Land bis zu seinen „natürlichen Grenzen“ einschließlich des Rheins auszudehnen. Und das mit der Zustimmung Großbritanniens, der traditionellen Hüterin des Gleichgewichts auf dem Kontinent.
Bonaparte reichte das jedoch noch lange nicht. Talleyrands Wunsch zuwider führte der kleine Korse weiter Krieg und zwei Koalitionskriege später, nach dem Frieden von Tilsit, der den Vierten Koalitionskrieg 1807 beendete, demissionierte Talleyrand. Er hintertrieb sogar Napoleons Politik in der Annahme, dass Napoleon alles für Frankreich Erreichte verspielen würde.
Nachdem es tatsächlich soweit gekommen war, machte sich Talleyrand für eine Rückkehr der Bourbonen stark. Die von ihm bereits 1789 erstrebte konstitutionelle Monarchie schien nun möglich zu sein. Zudem konnte sich ein von den Bourbonen regiertes Frankreich als erstes Opfer der Französischen Revolution und als natürlichen Verbündeten der antinapoleonischen Siegermächte darstellen. Talleyrand setzte auf das Prinzip der „Legitimität“, was die Hoffnung versprach, dass der Status quo ante restauriert wurde, sprich Frankreich ein Pariadasein erspart blieb und es vielmehr wieder an seine Rolle von vor der Revolution als eine der fünf Großmächte anschließen durfte. Zu diesem Prinzip der Legitimität gehörte eben auch die Rückkehr der Bourbonen auf den französischen Thron. Frankreichs neuer König Ludwig XVIII., der älteste Bruder Ludwigs XVI., dankte Talleyrand dessen Eintreten für die Restauration der Bourbonenherrschaft mit der Ernennung zu seinem Außenminister.
In dieser Eigenschaft leitete Talleyrand auch die französische Delegation bei der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress von 1814/15. Selten ist ein Verlierer nach einer Neuordnung derart ungeschoren davongekommen. Talleyrand hat das ganz unbescheiden als sein eigenes Verdienst erscheinen lassen. Zweifellos hat er den vier anderen Großmächten geschickt einen Strich durch die Rechnung gemacht, als diese glaubten, sie könnten die Neuordnung Europas unter sich aus machen. Er gerierte sich als Anwalt der Mittel- und Kleinstaaten und erhob gegen deren Übergehen Protest. Das Ergebnis war, dass die vier Großmächte Frankreich als fünften im Bunde akzeptierten und Talleyrand dafür nicht mehr gegen die Missachtung der mindermächtigen Staaten protestierte. Allerdings waren die Rahmenbedingungen für den französischen Kriegsverlierer auch ausnehmend günstig, da zum einen sich die Sieger über die Verteilung der sächsischen und polnischen Kriegsbeute entzweiten und zum anderen die den Wiener Kongress dominierenden Politiker Klemens Wenzel Lothar von Metternich aus Österreicher und Robert Stewart, zweiter Marquess of Londonderry und Viscount Castlereagh, aus Großbritannien ein kontinentales Gleichgewicht unter Einschluss Frankreichs anstrebten, nicht zuletzt zur Eindämmung Russlands. Allerdings konnte auch Talleyrand nicht verhindern, dass Bayern und vor allem Preußen linksrheinische Territorien erhielten, was dem zweiten französischen Kaiserreich 1870 zum Verhängnis wurde.
Der Wechsel auf dem französischen Thron von Ludwig XVIII. zu Karl X. führte zu einem Bedeutungsverlust Talleyrands. Letzterer wünschte eine konstitutionelle Monarchie wie zu Zeiten Ludwigs, aber nicht den von Karl unternommenen Versuch, zum Absolutismus zurückzukehren. Talleyrand begrüßte deshalb auch die Julirevolution von 1830. Noch im selben Jahr stellte er sich als Botschafter in London in den Dienst des aus der Revolution hervorgegangenen „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe. Die auf der Londoner Konferenz 1830 sanktionierte Loslösung des stark französisch geprägten Königreiches Belgien aus dem stark britisch geprägten Königreich der Vereinigten Niederlande war ein beachtlicher Erfolg.
Aus Altersgründen gab Talleyrand 1834 den Botschafterposten in London auf und zog sich in das Privatleben zurück. Nachdem er vorher noch seinen Frieden mit der römisch-katholischen Kirche gemacht hatte, starb er am 17. Mai 1838 in Paris.