erschienen in der PAZ
von Dr. Manuel Ruoff
Vor 125 Jahren starb der erste Deutsche Kaiser, Wilhelm I. – Er ließ Bismarck, Moltke und Roon gewähren
Sein Enkel und späterer Nachfolger Wilhelm II. hat versucht, für ihn die Bezeichnung „Wilhelm der Große“ durchzusetzen, zu Recht vergebens. Eher ist seinem Ministerpräsidenten und Reichskanzler Otto von Bismarck zuzustimmen, der über ihn meinte: „Kein Großer, aber ein Ritter und ein Held“. Die Rede ist vom Deutschen Kaiser und König von Preußen Wilhelm I.
Im Gegensatz zu dem wirklich großen Staatsmann Otto von Bismarck, der ein Revolutionär war, wenn auch ein weißer, war der Legalist Wilhelm I. eher anachronistisch. Ähnlich wie sein Vater Friedrich Wilhelm III. war Wilhelm ein Monarch, der zum Jagen getragen werden musste. Aber während sich Friedrich Wilhelm durch die Ereignisse und Entwicklungen treiben ließ, übernahm diese Aufgabe bei Wilhelm Bismarck. Das Größte an Wilhelm ist denn auch zweifellos, dass er erkannte, dass sein Regierungschef (Bismarck) und auch sein Generalstabschef (Helmuth von Moltke) größer waren als er und dass er diesen, wenn auch nicht immer ohne Widerstand, in der Regel letztlich doch folgte. Es zeugt von Charakter, wie neidlos und mit welcher Selbstironie er die Überlegenheit von Untertanen anerkannte. Trocken konstatierte er, dass Bismarck für das Reich wichtiger sei als er, und stöhnte, dass es nicht einfach sei, unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein.
Überhaupt scheint Wilhelm manche sympathischen Charakterzüge gehabt zu haben, darunter Bescheidenheit, Sparsamkeit, Mut, Pflichtbewusstsein und Treue. Nicht umsonst zählte Wilhelm bei seinem Tode zu den weltweit beliebtesten Monarchen; und ein so Großer wie Bismarck hat sich in seiner Grabinschrift „einen treuen deutschen Diener Kaiser Wilhelms I.“ nennen lassen.
Wenn wir auch aus Wilhelms eigenem Munde wissen, dass es für ihn nicht leicht war, unter Bismarck Monarch zu sein, so war es doch auch für Letzteren nicht leicht, unter ihm Regierungschef zu sein. Zur ganzen Wahrheit gehört nämlich, dass Wilhelm Bismarck häufig Widerstand entgegengesetzt hat und dass, wenn Bismarck seinerseits nicht so konsequent an seinen Überzeugungen festgehalten hätte, Wilhelm eine Politik betrieben hätte, die nicht einmal Wilhelm II. auf die Idee hätte kommen lassen, ihn als groß zu bezeichnen.
Als ein Beispiel sei die Bündnispolitik des jungen Deutschen Reiches genannt. Bismarck wusste, dass es angesichts der Revanchegelüste Frankreichs von existenzieller Bedeutung für das Reich war, mit den beiden anderen kontinentalen Großmächten verbündet zu sein. Interessanterweise hielten sowohl Wilhelm I. als auch Wilhelm II. diese Kombination für unmöglich und für einen Verrat. Der Unterschied zwischen den beiden Hohenzollern bestand allerdings darin, dass Wilhelm II. den Rückversicherungsvertrag für einen Verrat am Zweibund hielt und deshalb den Vertrag nicht verlängerte, den Draht nach Petersburg kappte. Wilhelm I. hingegen hielt ein Bündnis mit Österreich für einen Verrat an der traditionellen, bewährten Freundschaft mit Russland. Bismarck setzte sich schließlich gegen Wilhelm I. durch. Aber wäre es nach Letzterem gegangen, wäre es zu einer Wiederholung der Krimkriegskonstellation gekommen mit dem Unterschied, dass Preußen diesmal nicht hätte neutral bleiben können, sondern an Russlands Seite als dessen westlicher Außenposten und Juniorpartner nicht nur Frankreich, sondern auch die am Status quo auf dem Balkan und in der Türkei interessierten Großmächte Österreich und Großbritannien zum Gegner gehabt hätte und damit von der einzigen verbündeten Großmacht abhängig gewesen wäre. Es spricht für Wilhelms politische Naivität, sprich mangelnde Größe, aber auch für einen sympathischen, um nicht zu sagen: ritterlichen, Charakter, dass er die Außenpolitik seines Staates durch ein menschliches Gefühl wie Dankbarkeit leiten lassen wollte.
Wilhelm war nicht immer ein Sympathieträger seiner Landsleute gewesen. Sein Eintreten für eine militärische Antwort auf den Ausbruch der 48er Revolution und der finale Todesstoß, den er dieser liberalen Erhebung versetzt hat, indem er mit den von ihm kommandierten preußischen Truppen 1849 mit Rastatt die letzte Festung der Revolutionäre eingenommen hat, machte den „Kartätschenprinzen“ zum Feindbild der Liberalen.
Möglicherweise unter dem Einfluss seiner liberalen Ehefrau Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach näherte sich Wilhelm jedoch nach der Revolution liberalen Positionen an. Und als er 1858 von seinem Bruder die Regierungsgeschäfte übernahm, war er – ähnlich wie 30 Jahre später sein Sohn Friedrich Wilhelm – zum Hoffnungsträger der Liberalen geworden. Unter seiner Regentschaft begann eine liberale Neue Ära.
Beim Militär endete jedoch Wilhelms Liberalismus. Nach den schlechten Erfahrungen mit der preußischen Mobilmachung während des Sardinischen Krieges im Jahre 1859 wollte Wilhelm eine Heeresreform durchsetzen, die sowohl den Wehrdienst verlängerte als auch das professionellere stehende königliche Heer gegenüber der Landwehr aus der Zeit der Befreiungskriege, stärkte. Da die Liberalen diese Kombination als inakzeptable Zumutung empfanden, war eine legale Realisierung dieser Reform unmöglich, hatte doch in dem mit dem Budgetrecht versehenen Abgeordnetenhaus die liberale Fraktion die Mehrheit. In dieser Situation dachte Wilhelm wohl an Abdankung, zumal er in seinem liberalen Sohn Friedrich Wilhelm einen Nachfolger gefunden hätte, dem es wohl ein leichtes gewesen wäre, mit einer liberalen Parlamentsmehrheit zusammen zu arbeiten. Wilhelms Kriegsminister, Albrecht von Roon, verwies ihn dann jedoch auf Bismarck, der bereit war, als Regierungschef an der Seite seines Königs den Verfassungsbruch zu wagen. Gemeinsam setzten sie gegen den Willen der Liberalen und der Abgeordnetenhausmehrheit die Heeresreform 1862 durch.
Der Erfolg in den drei Einigungskriegen schien Wilhelm und Bismarck in den Augen vieler anfänglicher Heeresreformgegner nachträglich recht zu geben.
Als Legalist, der er war, wollte Wilhelm nach dem gewonnen Zweiten Einigungskrieg von 1866 allen Verlierern etwas wegnehmen. Das hätte zur Folge gehabt, dass halb Deutschland Preußen bei der nächstbesten Gelegenheit revanchelüstern gegenübergestanden hätte. Es war Bismarck, der in dieser Frage keine halben Sachen wollte und es gegen Wilhelm durchsetzte, dass die Kriegsgegner entweder geschont oder eliminiert wurden, so dass im darauffolgenden Dritten Einigungskrieg Frankreich Preußen alleine gegenüberstand und unter Preußens Kriegsgegnern von 1866 keine Verbündete fand.
Angesichts dessen, dass Wilhelm gegenüber Napoleon III. in der spanischen Thronfolgefrage eine ähnliche Appeasement-Politik versuchte wie weiland sein Vater Friedrich Wilhelm III. gegenüber Napoleon I., wäre es ohne Bismarck möglicherweise gar nicht zum Dritten Einigungskrieg gekommen und damit zu jener Schwächung Frankreichs, die es Preußen erst ermöglichte, Deutschland 1871 zu einigen.
Und selbst nachdem Moltke für ihn auch den letzten der drei Einigungskrieg gewonnen hatte, hätte Wilhelm die deutsche Kaiserkrone fast noch in letzter Minute verspielt, wollte er doch lieber gar kein Kaiser sein, wenn schon nicht „Kaiser von Deutschland“.
Es lässt sich konstatieren, dass Wilhelm zwar etwas altmodisch, um nicht zu sagen anachronistisch, dachte, aber nichtsdestoweniger diverse menschlich sympathische Züge trug. Andererseits ist es wohl ebenso wahr, dass Preußen unter diesem Hohenzoller ohne Generalstabschef Moltke, Kriegsminister Roon sowie schließlich Ministerpräsident und Reichskanzler Bismarck an dessen Seite wohl kaum von der kleinsten zur größten der europäischen Großmächte und zum Kernstaat eines deutschen Reiches geworden wäre.