Von Götz Egloff
Rezension zu Eva Rass, Bindung und Sicherheit im Lebenslauf. Psychodynamische Entwicklungspsychologie. Klett-Cotta, Stuttgart, 2011
Die Autorin, langgediente Psychoanalytikerin und Kinderpsychotherapeutin, legt mit diesem Buch einen weitgespannten Bogen über die beobachtungsnahe Entwicklungspsychologie des Menschen unter psychodynamischem Blickwinkel vor. Unterstützt von neuen Forschungsergebnissen aus akademischer Psychologie und Neurowissenschaften, aber v.a. angelehnt an Erik Eriksons epigenetisches Entwicklungsmodell psychosozialer Krisen, werden entscheidende menschliche Entwicklungsaspekte dargestellt, die vom pränatalen Erleben bis hin zum späten Lebensalter reichen. Ich-psychologisch griffig, leicht verständlich und beherzt beschreibt Rass die wichtigen, nötigen und oft so kritischen Stufen der Bewältigung der Abschnitte in den verschiedenen Lebensaltern und ruft zu einer reflektierten, empathischen Selbstwahrnehmung dieser auf.
Insbesondere die Darstellungen kindlicher sensorischer Entwicklung und der Entwicklung im Jugendalter sind sehr eindrucksvoll, ja mitunter glänzend geschrieben. Man möchte die Lektüre derer Eltern, Erzieherinnen und Lehrern ins Stammbuch schreiben; ohne dieses Wissen ist eine halbwegs vernünftige Erziehung, Pädagogik, Kinderpsychologie nicht möglich. Der an manchen Stellen eher endogen wirkende Entwicklungsansatz ist der Autorin hierbei nachzusehen; zu wichtig ist die Betonung einer intrapsychischen, genetisch-sozialisatorischen Grundkonstante des menschlichen Wesens. Insofern klingen hier auch die Arbeiten von Jean Piaget an.
Bemerkenswert ist einerseits die Bresche für die Väter, die die Autorin schlägt. Andererseits wird jedoch mit der Annahme der Fülle der frühen Mutter-Kind-Dyade genau jene Freudsche Leerstelle (die idealisierte Mutter, die Nicht-Bedeutung der triangulierenden Funktion des frühen Vaters) bedient, die gerade so fraglich ist.
Gleichsam scheinen manche Konzepte, wie das der Geschlechtsrollenidentität, mit manchen Gegebenheiten der Postmoderne zu kollidieren; Rass plädiert dann für ein konservativ anmutendes, doch psychobiologisch fundiertes Konzept. Wer die Geschlechtsrollenproblematik aus der Praxis kennt, für den ist dies gut nachvollziehbar, wenn auch in der bio-psycho-sozialen Auffächerung in praxi höchst schwierig. Auch lässt ein idealisiertes Bild ländlicher Vater-Sohn-Idylle einen gnostisch-romantischen Impetus des Buches spüren, der an Rousseau erinnert und Hoffnung auf eine Art Jungsche Selbsterlösung vermittelt, die nicht immer plausibel erscheint. Konzeptionell hätte etwas mehr Ödipus, Tyrann, hier gut getan. Alles in allem dennoch ein lesenswerter entwicklungspsychologischer Überblick mit viel Verve.
foto: Klett-Cotta