Einst im Land Gaza … Eine Kurzgeschichte

Der Autor, unterwegs im Land Gaza. Foto: privat

Ich heiße Mosche Landau. Traurig bin ich, und da es so ist, gehe ich mittags oft an diese Mole und schaue über das Meer. Denn das Meer beruhigt. Trübe Gedanken verweht der Wind.

Einst bin ich über das Meer ins Heilige Land gekommen. Meine Eltern flüchteten aus der Heimat nach Amerika. Ich verließ New York, um mich in das Land meiner Urahnen zu begeben. Nun darf ich auch hier nicht sein, wo ich sein möchte … was bin ich, frage ich mich? Ein Migrant? Ein Vertriebener? Ein Heimatloser? Ein Produkt kultureller Gegensätze?

Seit ein paar Tagen bemerke ich einen weißhaarigen Mann. Er sitzt immer allein an eine Mauer gelehnt, und aus den Lumpen zu schließen, die ihn umhüllen, ist er ein Bettler. Sein dunkles Gesicht ist zerfurcht, eingefallen, aber von gütigem Ausdruck. Heute beobachte ich wie er ein Stück Brot und eine Orange aus seiner Burnusfalte zieht. An beidem nagt er, als treibe ihn großer Hunger. Nach einer Weile stemmt er sich hoch und schlurft den nahen Häusern der Stadt zu. Auf dem Weg in mein Büro sehe ich den Landstreicher wieder. Er durchsucht einen Abfalleimer nach Essbarem. Seltsam: Der Mann beschäftigt mich.

Am nächsten Morgen hockt er erneut an der Mole. Ich spreche ihn an. Er zuckt zusammen als habe ich ihm ins Ohr gebrüllt. Ängstlich schlägt er schwarze, wässrige Augen auf. „Shalom, ist das Ihr Stammplatz?“, frage ich. „Dilwati (jetzt) – ajwa (ja),“ antwortet er arabisch. „Dann wissen Sie, was am Hafen so passiert?“ Er schaut dem Verkehr nach und meint: „Alles zieht dahin, nichts bleibt!“

Einem Drang, oder einer sozialen Regung folgend, schlage ich vor: „Werfen Sie das verschimmelte Brot weg, wir gehen etwas essen.“ Der Bettler glotzt, als traue er seinen Ohren nicht. „Was?“ – „Ich spendiere ein Essen!“ – „Und? Ihr Juden macht nichts umsonst!“ – „Vielleicht gibt’s Ausnahmen.“ – „Ich bin Flüchtling“, weht der Alte ab. „Sind wir das nicht alle?“, meine ich versöhnlich. „Meinetwegen, wenn Sie sich Läuse holen wollen!“

Gaza-Stadt vor 2023. Foto: Archiv Cropp

Wir gehen Jaffas Elyashiv Street entlang. In den Shaul’s Inn, der um diese Zeit rappelvoll ist. Schieben uns vor, an einen Tisch, den wir im nächsten Moment für uns alleine haben. Erst jetzt merke ich, dass seine Ausdünstungen ungeheuerlich sind. Bei dem Anblick der Auslagen hinter der Vitrine bildet sich Speichel um seine Lippen. Die Kellnerin kommt widerwillig an unseren Tisch. „Lamm mit Reis,“ sagt er leise.

Als das Essen gebracht wird, würde ich ihn gern mit tausend Fragen bedrängen. Er säbelt das Lammfleisch in kleine Stücke. Mit beachtlicher Geräuschkulisse leert er seinen Teller, führt ihn zum Mund und leckt den Soßenrest heraus. Ein saurer Rülpser zeigt an: Es hat ihm geschmeckt. „Satt?, frage ich. „Nein,“ sagt er kaum hörbar. Ich bestelle das gleiche noch einmal. „Allah ist mit den Barmherzigen!“, grunzt er.

Wir schweigen uns an. Der Alte blickt auf die Straße, meint endlich: „Ich bin heimatlos und zwischen alle Fronten geraten. Der Abfalleimer ist meine Speisekammer, der Himmel mein Dach.“ – „Gott schützt die Standhaften,“ versuche ich zu trösten. Er schüttelt den Kopf. „Ich, Jusuf, wurde verstoßen!“, sagt er mit traurigen Augen … und dann, ganz unerwartet, lässt er seine Geschichte heraus. Sein Leben interessiert mich. Einem plötzlichen Impuls folgend bin ich begierig, etwas über den Palästinenser zu erfahren.

Vor Jahren, der Rücken Jusufs war von harter, schlecht bezahlter Arbeit schmerzhaft geworden, stieg er doch regelmäßig auf den Dorfhügel, bis er die Stadt und das Meer in der Ferne, so grausam lockend, nicht mehr sehen konnte. Der Blick bereitete Pein, wie Sirenen, wie Drogen einem Süchtigen.

Jaffa, die Stadt in der Nachbarschaft, lag in der Hand eines verlängerten Arms vor ihm. Und doch fern in einer anderen, fremden Welt. Einer Welt so leicht und schön und zwanglos. Im Dorf erzählte man sich Geschichten über die Stadt, die ihm nachts den Schlaf raubten. Dort gäbe es das wahre Leben. Mit Geld sei dieses echte Leben herrlich auszukosten. Jusuf, der Landarbeiter, wollte von diesem Leben auch gern etwas probieren. Fünfundvierzig Jahre alt war er geworden, hatte sieben Kinder gezeugt. Diese und seine Frau zu ernähren war mühsam. Überhaupt waren die Dinge in seinem Dorf kompliziert und verworren. Am meisten bedrückte ihn das Verhalten seiner Frau, die ihn seit der Heirat für einen Trottel hielt. Er musste ihr endlich das Gegenteil beweisen!

All die schwere Arbeit als Erntehelfer galt nichts in ihren Augen. Er rackerte sich auf entlegenen Plantagen ab, um im Akkord Oliven zu pflücken. Und sie kassiert danklos seinen Lohn. Der Grund für dieses Verhalten lag in einem Stück Land. Als Mitgift hatte sie ein steiniges Feld bekommen. Jusuf bitter: „Das schielende Mädchen wäre der Vater ohne die Aussteuer nicht losgeworden!“ Aber der verdammte Acker mit achtzig krüppeligen Granatapfelbäumen war ihr stilles Pfand, und der Stachel, den Fatma, sein Weib, kräftig in sein Fleisch bohrte. Zum Glück war da der irre Traum vom prallen Leben im Land des Nachbarn.

Bis Mustafa, der Geschäftsmann, aus Gaza Stadt erschien. Er war es, der Jusufs Sehnsucht mit zwanzigtausend Dollar erfüllte. Er brauchte nur unterschreiben und sich der Illusion des anderen Lebens hinzugeben. Sauber gebündelte grüne Dollarnoten glitten aus dem Lederköfferchen Mustafas in die Tasche Jusufs. Verhasstes Land war zur Größe einer Zigarrenkiste geschrumpft und bestens zu transportieren.

Jusuf besorgte sich ein Auto mit Chauffeur und fuhr dem Meer entgegen, das so verheißungsvoll glitzerte. Und am Meer hielt er auf die Stadt zu, wo ihm ein schickes Hotel empfohlen wurde. Dort stellte sich rasch die passende Frau ein. Sie hieß Natascha, hatte Haare, gelb wie der Wüstensand, Augen, blau wie das Meer, und eine Haut, weiß wie Ziegenmilch. Wenn sie ihm ganz nah war, duftete sie wie frischer Jasmin. Sie kam aus der Ukraine.

Jaffa hatte sie auf illegalem Weg erreicht, war hier einfach untergetaucht. Auch sie hatte einem Traum. Den Traum von einem Haufen Dollarscheinen in einer neuen Heimat. Während Jusufs Geldbündel schmolz wie Butter in mediterraner Sonne, mehrte sich das Bündel Nataschas … bis Jusuf mit nur noch fünftausend der grünen Scheine erwachte und in sein Bergdorf zurückkehrte. Wo er sich jetzt einem Orkan der Entrüstung zu stellen hatte.

„Oh schändlicher Verräter!“, hieß es. Mustafa, der Geschäftsmann, hatte den Granatapfelbaum-Acker weiterveräußert – trotz heiliger Eide dies nie zu tun. Die weihevolle Erde erwarb eine jüdische Baufirma.

Der Bettler seufzt und schlürft Tee. „Ich bin der Verräter. Für das Dorf hatte ich Heimatland an Juden verschachert und mich mit dem Geld in Sünde gesuhlt!“ – „Das Hanggrundstück bei Jabaliyah?“, will ich wissen. „So ist es – warum?“, fragt er, fährt aber fort: „Meine Schandtat hing zwischen mir und meinem Weib, und ich sah eine zweite Frau als einzigen Ausweg aus dem Dilemma.“

Fünftausend Dollar ist ein beachtlicher Brautpreis. Doch er bekam nur eine aus einem heruntergekommenen Clan, dem es egal war, dass er Land an Juden verkauft hatte. Die Frauen, doch grundverschieden, verschworen sich gegen ihren Mann an dem Tag, an dem jüdische Sägen die alten ehrwürdigen Granatapfelbäume fällten, um an deren Stelle jüdische Häuser mit bunten Dächern zu errichten. Als die ersten Israelis die neuen, schönen Häuser beziehen wollten, rebellierten seine Frauen. Jusuf durfte weder klagen, lamentieren, noch züchtigen. Wer Heimaterde an Juden verkauft, hat zu dulden, zu schweigen, und zu leiden. Er wurde aus dem Haus, dann aus dem Dorf gejagt. Flüchten konnte er nur ins verhasste Israel. Kein Moslem aus Gaza hätte ihm Obdach gewährt.

Das war vor zwei Jahren. Hätte er das Land doch nur nicht verkauft! Er könnte Granatäpfel ernten, bescheiden, aber ehrbar leben. „Ich bin am Ende. Die Schmach ist groß. Ich büße meine Tat, in dem ich in der Fremde unter Ungläubigen lebe wie ein räudiger Hund,“ flüstert der Alte und über sein zerfurchtes, gütiges  Gesicht rinnt eine Träne …

Nun umarme ich Jusuf und drücke ihn lange. Schließlich blicke ich in seine wässrigen Augen und sage: „Ach Jusuf, wie sich Lebenswege gleichen, ich bin …“ – „Unsere Lebenswege gleichen sich?“, unterbricht er, „was meinst du damit, Jude?“. Ich antworte: „Gehe in dein Dorf zurück, gewiss wird man dich jetzt aufnehmen. Unsere Regierung …“ *)

„Oh ja, ich begreife,“ sagt der Palästinenser. Und über sein Gesicht huscht ein sanftes Lächeln. Er trinkt vom Tee. Dann steht er unsicher auf, beugt sich zu mir, haucht: „Schukran, danke. Allah weist mir den Weg .“ Damit wankt er zielstrebig aus dem Lokal, als gelte es einen wichtigen Termin wahrzunehmen.

Der Wirt atmet auf, die Gäste entkrampfen sich. „Ich habe zu danken!“, rufe ich ihm nach und zahle. Meine Traurigkeit ist verflogen. Merkwürdig, ich hänge ihm nicht mehr nach, dem zerplatzen Traum vom neuen Heim in der Siedlung, am Hang in Meeresnähe …

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*) Ab 2005 verbot die israelische Regierung ihren Bürgern die Besiedlung des Gaza-Streifens. Und was ist heute, 2024, daraus geworden?

 

Mali, mon amour. Eine Expedition durch einen Wüstenstaat

Die Stelzentänzer der Dogon

Wer wagt eine Reise durch Mali, dieses arme, zumal durch Bürgerkriege zerrüttete Land im Westen des Schwarzen Kontinents? Gute Frage. Da gibt es eigentlich nur einen, der dieses trotz aller Gefahren faszinierende Land liebt und seinen Geheimnissen unbedingt auf die Spur kommen wollte. Der Autor heißt Wolf-Ulrich Cropp, der Grandseigneur in Sachen Expeditionen in Gegenden, die für die meisten von uns terra incognita sind. Mit „Mali und die Dschinns der Wüste“ hat der Autor ein Buch vorgelegt, das – 300 Seiten stark – den Leser vom ersten bis zum letzten Satz in seinen Bann schlägt.

Der erste Anlauf in Richtung Sehnsuchtsort misslang. Widrige Umstände verhinderten die Weiterreise von Nordafrika ins Innere des Kontinents. Resignation? Keine Spur. Dafür erkundet der Autor einen Teil Marokkos. Der Streifzug durch dieses Land, dessen Königsstädte, besonders Marrakesch, an Märchen aus 1001 Nacht erinnern, bilden die Ouvertüre zu weiteren Abenteuern, die noch im Dunkeln liegen. Cropp führt uns durch die blendend weißen Sanddünen der Sahara, gewährt Einblicke in von schattigen Dattelpalmen gesäumte Oasen und lässt uns an einem Ausflug in den Osten des Hohen Atlas teilhaben. Wir tauchen ein in das Gewusel der bunten lauten Märkte von Tanger und Casablanca und lassen uns von den Wohlgerüchen des Orients betören. Des Autors hohe Kunst des Erzählens führt den Leser mitten hinein ins Geschehen, lässt ihn hautnah teilnehmen am Erlebten.

Damit ist der erste Teil des Abenteuers Afrika zunächst beendet. Jedoch Schwierigkeiten sind dazu da, gemeistert zu werden, lautet die Maxime des Autors. „Die Kraft des Baobab, des Affenbrotbaumes, liegt in seinen Wurzeln“, besagt ein malisches Sprichwort, mit dem Cropps Einstieg in die 2-Millionen-Metropole Bamako beginnt. Die Zustände im „Maison des Jeunes“, wo der Mann sich einquartiert, entsprechen nicht den Vorstellungen verwöhnter Europäer. Statt klimatisierter Zimmer erwartet den Gast ein stickiger Schlafsaal mit Kakerlaken und anderem Getier. Während sich auf den Brücken der Stadt eine einem riesigen Wurm nicht unähnliche Autoschlange nur mühsam fortbewegt, waschen dunkelhäutige Frauen in den trüben Wassern des Niger ihre Wäsche und sehen den jungen Leuten zu, die ausgelassen in der Brühe baden. Lokalkolorit vom Feinsten. Hier und da ergibt sich ein Dialog mit einheimischen Händlern, die ihr großes Angebot an Souvenirs an den Mann bringen wollen und sich gleichzeitig einem Schwätzchen mit einem Fremden sehr aufgeschlossen zeigen.

Timbuktus Wahrzeichen: Die Moschee Sankoré

Wir verlassen Bamako und wenden uns der Großen Moschee von Djenné zu, einem Gotteshaus, das mit seiner Wehrhaftigkeit einer gigantischen Trutzburg gleicht. Und weiter geht es nach Fourou, zu einer der Goldgruben Afrikas. Viele arme Schlucker hoffen, hier das große Los zu ziehen. Aber es sind die mächtigen Konzerne und politische Kreise, die den Reibach machen. Die kleinen Leute gehen, wie üblich, leer aus. Kismet. Das nächste Kapitel widmet sich der abenteuerlichen Flussfahrt auf einer Pinasse, die ihren Anfang in Mopti am Zusammenfluss von Niger und Bami nimmt und fünf Stunden später wegen eines Motorschadens ihr unrühmliches Ende findet.

Endlich liegt sie vor uns: Timbuktu, die Stadt der Legenden und Geheimnisse, die den Autor schon aus der Ferne in seiner Jugend faszinierte. „Da war sie wieder, die Vorstellung vom magischen Ort der Sehnsüchte und Begierden“, schreibt er. „Allein der Name ‚Timbuktu’ beseelt Entdeckerlust. Eine Oase, die die Fantasie anregt, Sklaven- und Schutzkarawanen kommen und am Horizont entschwinden lässt … Die aber auch von Glanz, Reichtum, ja sogar von Wissenschaft, Lehre und Forschung berichtet.“ Diese „Perle der Wüste“, „Stadt der 333 Heiligen“ und einstiges Zentrum islamischer Wissenschaft und Kultur, ist kostbarer Bestandteil des UNESCO Weltkulturerbes. Hier ist der Autor in seinem Element. Ein anderer Hamburger, der Afrika-Forscher Heinrich Barth, hat an diesem magischen Ort bereits im 19. Jahrhundert akribisch geforscht und unauslöschliche Spuren hinterlassen. In der Rue Heinrich Barth besucht der Hanseat Cropp das kleine Museum und entrichtet unter der Gedenktafel seinen Obolus. Ehre, wem Ehre gebührt!

Tuareg in Timbuktu

Die Fahrt durch die Wüste bei sengender Hitze nimmt nur ein Masochist auf sich oder einer, der den Geschehnissen aus dem Jahre 2003 auf die Spur kommen will. Rufen wir uns doch den Austausch deutscher Geiseln gegen Terroristen ins Gedächtnis, der tagelang Thema Nummer eins in Rundfunk, Fernsehen und Presse war. Hier, wo rivalisierende Tuareg-Clans und Glaubensfanatiker ihr Unwesen treiben, fand die lebensgefährliche Aktion statt. Der Autor beschreibt sie so lebendig, als wäre er selbst dabei gewesen. Die Wüste fasziniert ihn, obgleich er ihre Gefahren und Tücken bis ins Detail kennt. Diese Leidenschaft teilt er mit dem legendären Flugpionier Antoine de Saint-Exupéry, der die Wüste einst als die schönste und gleichsam traurigste Landschaft auf Erden pries.

Im Kapitel „Am Rande des Abgrunds“ kommen wir endlich mit den im Titel des Buches erwähnten Dschinns in Berührung. Dschinns sind böse Geister in der Gestalt islamistischer Gruppierungen, denen sich zeitweise die Tuareg anschlossen: Rebellengruppen aus Algerien, dem Niger, dem Nordosten Malis und Libyen. Kein schöner Gedanke, bei einem Ritt auf dem Dromedar diesen finsteren Gesellen zu begegnen. Doch der Autor ist offenbar ein Sonntagskind, denn, wie man auf gut hamburgisch zu sagen pflegt: „Es hat ja noch mal gut gegangen“ während seines nicht ungefährlichen Ausflugs in die Wüste. Wohl auch, weil er sich an die alte Tuareg-Weisheit hielt, die fordert: „Ein Reisender soll Augen und Ohren aufreißen, nicht das Maul.“ Ita est.

Mali – zum letzten Mal. Wirklich? Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Denn zuvor lassen wir uns noch auf den „Fluss der Krokodile“ und in eine Fetischhöhle entführen. Auch einem Besuch in der “Bar der Ratten“ weicht der Autor nicht aus. Sie befindet sich in einem Hotel in Kora, aus dem sich diese unappetitlichen Nager nicht vertreiben lassen wollen. So lässt man sie halt gewähren. Afrikanisches laisser-faire, laisser-aller halt: „Hélas, on n’en peut rien faire.“ Man kann leider nichts dagegen tun, heißt es mit einem Achselzucken. Aber keine Sorge. Die Hotelangestellten beteuern, es gehe keine Seuchengefahr von den Viechern aus. Hoffen wir’s Beste, liebe Leser.

Der Besuch einer Schule in Touréla, in der unter primitivsten Umständen zweisprachig unterrichtet wird, in der Landessprache Bambara und auf französisch, räumt mit vielen Vorurteilen über die oft zitierte Trägheit der Afrikaner auf. Trotz Saunatemperaturen in einem kleinen, mit fünfzig Kindern besetzen Klassenraum geht es sehr diszipliniert zu. Den Nachwuchs dürstet es nach Wissen. So nehmen die Kleinen häufig mehrstündige Wege auf schlechten Straßen und schlammigen Pfaden in Kauf, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Alle Achtung! Bildung war von jeher der erste Schritt in eine bessere Zukunft.

Mir hat die Lektüre dieses Buches großes Vergnügen bereitet, zumal ich dabei viel über diesen Teil Westafrikas erfahren habe, von dem ich vorher so gut wie nichts wusste. Mein herzlicher Dank für diese „Erleuchtung“ gilt dem Autor Wolf-Ulrich Cropp. Zum Schluss soll der Abenteurer und Weltenbummler noch mit einem Bekenntnis zu Wort kommen: „Der Mensch braucht das Gefühl von unentdeckten Horizonten, das Geheimnis unbewohnter Landstriche. Er braucht den Ort, wo Wild auf der Jagd ist, weil Land, das Wild hervorbringen kann, gesundes, robustes Land ist.“ Dem ist schwerlich etwas hinzuzufügen.

Ich möchte noch auf den umfangreichen Anhang aufmerksam machen, in welchem der Autor neben einem Abriss zur Geschichte Malis wertvolle Hinweise und Empfehlungen für Wüstenfahrer erteilt. Hinweise auf Sehenswürdigkeiten und eine Fotogalerie im Inneren des Buches tun ihr Übriges, um das Lesevergnügen zu steigern.

„Mali und die Dschinns der Wüste“ von Wolf-Ulrich Cropp
300 Seiten, reich illustriert, ist im Verlag Expeditionen erschienen
– ISBN 978-3-947911-20-2 – Preis: Euro 14,90

(Fotos: Wolf-Ulrich Cropp)

 

 

Abenteuer eines Weltenverstehers

Wolf-Ulrich Cropp las aus seinen neuesten Werken

An diesem Abend des 11. April schwieg die Orgel. Wo sonst Präludien von Bach und Buxtehude erklingen, erfüllten afrikanische Dschembé-Rhythmen die Kirche der Evangelisch-methodistischen Gemeinde in Hamburg-Eppendorf. Die Hamburger Autorenvereinigung hatte zu einer Lesung aus den neuesten Werken Ihres Mitglieds Wolf-Ulrich Cropp geladen.

In seinem Buch „Im Schatten des Löwen“ entführt uns der Autor in den Süden Afrikas – nach Simbabwe, Botswana und Namibia. Als der Mann mit der kecken weißen Mütze auf dem Kopf zu lesen beginnt, kann man eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Die Reise ins Reich des Robert Mugabe, sozusagen in die „Höhle des Löwen“, erfordert schon eine gehörige Portion Mut. Die völlig irrationalen Vorschriften in diesem Land versteht kein Europäer. Man kann völlig grundlos von der Polizei festgenommen und eingekerkert werden, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Wie das folgende Beispiel zeigt:
„In den Morgenstunden meiner Verhaftung, Arrestierung …. bin ich einfach zu spät aufgewacht“, schreibt Cropp. Dass nun ausgerechnet ein Marabu, ein Unheil verkündender Vogel, der sich von Aas ernährt, vor der Zelle hockt und ihn beäugt, verheißt nichts Gutes. Wie soll der „Delinquent“ nur dieser Hölle entkommen? Aber der Autor kennt seine Tricks. Gerade wenn es spannend wird, blockt er ab. Honi soit qui mal y pense. Wer Näheres wissen will, soll halt das Buch erwerben und lesen, wie er sich schließlich aus dieser misslichen Lage befreite.

Abenteuer auf dem Schwarzen Kontinent

Eine kleine Indiskretion sei an dieser Stelle erlaubt. Auch im sozialistischen Paradies des Herrn Mugabe wirkt Bakschisch wie ein Sesam öffne dich. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war Cropps Weg frei für veritable Abenteuer auf dem Schwarzen Kontinent. Manche unter ihnen ließen dem Zuhörer das Blut in den Adern erstarren. Selbst jenes aus zweiter Hand wie das Schicksal der Reptilienforschers Dr. Jonas Hamilton, der nach Einbruch der Nacht im Sambesi von einem etwa fünf Meter langen Krokodil angegriffen wurde und in dessen mit Knochen, Fell und Kot übersäten Höhle landete. Nur mit Mühe konnte er sich trotz einer schweren Verletzung ans Ufer schleppen, wo ihn helfende Hände fanden und ins nächste Hospital schafften. Während eines Aufenthaltes in der Psychiatrie erhängte sich der schwer traumatisierte Mann später. Hat Wolf Cropp sich etwa durch diese Horrorgeschichte von seinen gefährlichen Abenteuern zu Lande und auf dem Wasser abhalten lassen? Mitnichten. Ganz im Gegenteil, denn bereits am nächsten Tag ruderte er mit seinen Begleitern „ins Inselgewirr vor den (Victoria) Fällen; vorbei an Princess Christian Island, Princess Victoria Island schließlich Livingstone Island“. Und dies trotz aller Gefahren, die in der Tiefe des Flussbettes lauerten. Denn noch gefährlicher als Krokodile sind die Flusspferde – Hippopotamus, im Plural kurz Hippos – die gern einmal mit ihren massigen Körpern unter die Boote tauchen und sie zum Kentern bringen. Wer einmal das aufgerissene Maul eines solchen Ungeheuers gesehen hat (im Buch zu besichtigen auf Seite 78), erkennt, welch tödliche Verwundungen dessen riesige Hauer anrichten können. Dennoch, die Flussfahrt geriet zu einem wunderbaren Ausflug, der im Victoria Falls Hotel mit einem festlichen Dinner gekrönt wurde. Als Hauptgericht wurden Steaks vom Krokodil gereicht. Nach Auskunft des Autors eine Delikatesse, zart wie Geflügel, nur ungleich würziger. Den Nachtisch an diesem Abend servierten die beiden leidenschaftlichen Musikerinnen der Gruppe Toubaba in Form einer getrommelten Eigenkomposition. Hinreißend!

Jenseits der Westwelt – Wasser – Wüste – Eis

Der zweite Teil der ebenso kurzweiligen wie spannenden Lesung war Ausschnitten aus „Jenseits der Westwelt– Wasser – Wüste – Eis“ gewidmet. Wiederum ein erstaunliches Buch, das den Leser auf die Reisen – oder besser – Expeditionen des Autors in die unterschiedlichsten Klimazonen dieser Welt mitnimmt. Hier hatte Cropp das Kapitel über Sitten und Gebräuche der Mursi im Süden Äthiopiens ausgewählt. In diesem riesigen Gebiet mit seinen Savannen und hohen Bergen gelten Frauen als besonders begehrenswert, wenn sie Tellerlippen haben, deren „Besitz“ eine langwierige und schmerzhafte Prozedur voraussetzt. Wer also schön sein will. muss leiden. Wolf Cropp schildert diese barbarische (Un)sitte in seinem Buch sehr detailliert. Jungen Mädchen am Ende der Pubertät wird die Haut unter der Unterlippe ausgeschnitten, zwei untere Schneidezähne werden gezogen, und die erste kleine Scheibe wird eingesetzt. Diese Scheiben – wahlweise aus Ton oder Holz – werden über einen längeren Zeitraum immer größer, wobei auch die Unterlippe ausgedehnt wird, bis sie die Größe eines Tellers erreicht hat. Gott sei Dank schwindet dieser Brauch, der, wie die Mursi sagen, nur das Erwachsen- und Älterwerden symbolisiert, immer mehr aus dem Alltag der Menschen. Junge Mädchen verweigern sich heute dieser grausamen Prozedur, die ihre Mütter und Großmütter noch klaglos ertragen mussten.

Fazit: Ein sehr gelungener Abend mit einem Autor, der die seltene Gabe besitzt, seine eigenen Werke flüssig ohne übertriebenes Pathos zu lesen und der das Publikum vom ersten Augenblick in seinen Bann schlägt. Wolf-Ulrich Cropp ist Schriftsteller und Forscher in Personalunion und steht ganz in der Tradition eines Alexander von Humboldt, der gleich ihm die Welt bereiste, um sie zu erkunden und die verschiedenen Ethnien zu verstehen, ohne die Menschen anderer Kulturkreise zu bevormunden oder ihnen unsere westliche Zivilisation überstülpen zu wollen. Wolf Cropp beeindruckt durch seine Art, jedem, den er auf seinen ausgedehnten Reisen trifft, freundlich und einfühlsam zu begegnen.

Es liegt ihm fern, Sitten und Gebräuche zu kritisieren – selbst wenn sie ihm noch so befremdlich erscheinen. Sicherlich ist das auch einer der Gründe, warum er von seinen waghalsigen Abenteuern kreuz und quer durch alle sechs Kontinente stets unversehrt zurückgekehrt ist. Wolf Cropps Fangemeinde wünscht sich noch viele weitere spannende Bücher, die allerdings einen Nachteil haben. Nämlich den, dass es sie (noch) nicht als Hörbücher gibt. Über dieses Thema sollten seine Verlage einmal gründlich nachdenken.

„Im Schatten des Löwen“, erschienen bei DuMont, kostet Euro 14.99
„Jenseits der Westwelt“, erschienen bei Kadera, kostet Euro 26,–