Vor 100 Jahren lief mit der »Dreadnought« das erste »all big gun one caliber battleship« in Portsmouth vom Stapel
Von Manuel Ruoff
Traditionell setzte die britische Royal Navy eher auf Masse denn auf Klasse, eher auf Quantität denn auf Qualität. Die Menge, nicht die Größe der Schiffe sollte Großbritanniens Herrschaft auf den Weltmeeren sichern. So hatte die britische Kriegsmarine im Jahre 1905 56 Linienschiffe. (Die deutsche hatte zu der Zeit gerade einmal 17.) Für diese Strategie der großen Zahl sprach die Risikostreuung, denn so traf der Verlust eines Schiffes die Flotte vergleichsweise wenig.
Trotzdem war in Großbritannien bereits im Herbst des Vorjahres ein Strategiewechsel eingeleitet worden. Im Oktober 1904 wurde nämlich der deutschfeindliche Admiral of the Fleet Sir John Fisher zum Ersten Seelord berufen. Fisher hatte schon vorher für den Bau eines „all big gun one caliber battleship“ plädiert. Nun als Erster Seelord hatte er die Möglichkeiten, ein derartiges Schiff zu bauen, die „Dreadnought“. Dieses erste Großkampfschiff der Geschichte, das entsprechend seinem Namen nichts und niemanden fürchten sollte, sollte fast ausschließlich mit Geschützten großen Kalibers ausgestattet werden. Fisher zog damit die Konsequenz aus vorausgegangenen Seeschlachten, in denen sich die Gegner in weitem Abstand gegenübergestanden hatten und der schweren und damit weitreichenden Schiffsartillerie entscheidende Bedeutung beigekommen war. So erhielt die „Dreadnought“ zehn Schnelladekanonen des Kalibers 30,5 Zentimeter, verteilt auf fünf Zweiertürme. Von diesen befanden sich zwei hinten, einer vorn und je einer links und rechts von den Aufbauten, so daß das Schiff mit je sechs Rohren nach vorne und hinten sowie mit acht Rohren zur Seite schießen konnte. Gängig waren in jener Zeit vier Kanonen in je einem Zwilligsturm vorne und hinten.
Am zweitwichtigsten war Fisher die Geschwindigkeit, damit die „Dreadnought“ den für die 30,5-Zentimeter-Geschütze optimalen Abstand zum Gegner erst herstellen und dann halten konnte. Aus diesem Grunde wurden erstmals in einem Schiff oberhalb der Kreuzerklasse statt der üblichen Kolbendampfmaschinen moderne Dampfturbinen eingebaut. Die vier Sätze Parsons-Turbinen, welche die vier Wellen antrieben, waren nicht nur wartungsfreundlich, sondern ermöglichten mit ihren 23000 Wellen-Pferdestärken (WPS) dem Schlachtschiff auch eine Höchstgeschwindigkeit von 21 Knoten in der Stunde. Die Linienschiffe erreichten nur 19 Knoten.
Am wenigsten wichtig war Fisher die Panzerung. Er ging davon aus, daß die „Dreadnuoght“ ihre Gegner bereits niedergekämpft hatte, bevor diese ihren ersten Treffer landen konnten. So war die „Dreadnought“ vergleichsweise unspektakulär gepanzert.
Die Ausmaße des Großkampfschiffes waren nach oben nur begrenzt durch die Größe der Häfen und Docks von Portsmouth, Devonport, Malta und Gibraltar. Das über 160 Meter lange und fast 25 Meter breite Schiff hatte einen Tiefgang von über acht Metern sowie eine Konstruktionsverdrängung von 18110 Tonnen und eine maximale Verdrängung von 21845 Tonnen.
Ziemlich genau ein Jahr nach der Berufung Fishers zum Ersten Seelord, am 2. Oktober 1905, wurde die „Dreadnought“ bei der Königlichen Werft in Portsmouth auf Kiel gelegt. Ähnlich imponierend wie Bewaffnung, Geschwindigkeit und Ausmaße des Schiffs war die Geschwindigkeit seiner Fertigstellung. Am 10. Februar 1906 erfolgte der Stapellauf im Beisein des Ersten Seelords und des Königs. Am 11. Dezember des Jahres wurde das Schlachtschiff in Dienst gestellt. Dieses Tempo war wie das Schiff selber maßstäbesetzend. Die durchschnittliche Bauzeit eines britischen Linienschiffes betrug zu jener Zeit 33 Monate. Für Fisher war die Sache eine Frage des Prestiges, denn am 3. März 1905 hatte der US-amerikanische Kongreß die Mittel für zwei Linienschiffe bewilligt, die mit doppelt so vielen schweren Geschützen ausgestattet werden sollten wie üblich. Fisher gelang der Überraschungscoup. Verständlicherweise wurde das größte, bestbewaffnete und schnellste Schiff seiner Zeit Flaggschiff des Oberkommandierenden der Home Fleet.
Große Erwartungen verband Fisher mit dem Schiff. Es sollte die Seestreitkräfte der anderen seefahrenden Nationen und dabei nicht zuletzt der deutschen deklassieren. Das Wettrüsten sollte endgültig und eindeutig für Großbritannien entschieden sein. Seine Überlegung war dabei, daß Deutschland in der Vergangenheit ärmer und weniger industrialisiert gewesen war als sein eigenes Land. Zudem mußte es als Kontinentalmacht in der Nachbarschaft Rußlands im Gegensatz zu Großbritannien auch noch ein großes Heer finanzieren. Die Finanznot des Deutschen Reiches war allgemein bekannt. Immerhin hatte die „Dreadnought“ den britischen Steuerzahler 1,784 Millionen Pfund gekostet. Der im Deutschen Reich für die Finanzen zuständigen Reichstag war durch das in Europa Maßstäbe setzende demokratische Wahlrecht vergleichsweise links und die starke Sozialdemokratie durch den Marxismus zum Internationalismus verpflichtet. Zudem waren der Kaiser-Wilhelm-Kanal nicht tief genug, Bremerhavens Hafeneinfahrt nicht breit genug und Deutschlands Docks nicht groß genug für Schiffe dieser Größenordnung.
Wider Erwarten hielt das die Deutschen jedoch nicht ab. Sie nahmen es auf sich, die entsprechenden Umbauten vorzunehmen und Schiffe der „Dreadnought“-Klasse zu bauen. Damit hatte sich der vermeintliche Vorteil des neuen Schiffstyps für Großbritannien in einen Nachteil verkehrt. Mit den Linienschiffen der Deutschen und der anderen seefahrenden Nationen waren nämlich nicht nur genauso die eigenen marginalisiert, sondern auch der über Jahrzehnte erarbeitete Vorsprung in dieser bis dahin größten Schiffsklasse. In der nun beginnenden neuen Runde des Wettrüstens auf der nächsthöheren Ebene der „Dreadnought“-Klasse fingen alle wieder bei null beziehungsweise eins an. Die Briten konnten sich durch diesen neuen Schiffstyp um ihren mehr als komfortablen Vorsprung zur See gebracht sehen. Entsprechend gereizt reagierte die Herrscherin der Meere.
Am 1. Januar 1907 unterstellte der Abteilungschef im Foreign Office, Sir Eyre Crowe, in einer Denkschrift Deutschland, nach einer hegemonialen Stellung zu streben und dadurch die Lebensinteressen des Britischen Empire zu bedrohen; er schloß daraus, daß die Abwehr der unterstellten deutschen Expansion das leitende Ziel der englischen Politik werden müsse. Gut siebeneinhalb Jahre später, am 4. August 1914, erklärte Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg. An dessen Ende stand Deutschland wunschgemäß zur See entwaffnet da.
In diesem Krieg spielte die „Dreadnought“ nur eine marginale Rolle. Am 18. März 1915 rammte sie im Pentland Firth zwischen dem schottischen Festland und den Orkney Inseln das deutsche U-Boot U9 des legendären Kommandanten Otto Weddingen, das daraufhin sank. Dabei handelte es sich jedoch um einen Zufallserfolg. Das mittlerweile veraltete Schiff wurde von den Briten vornehmlich defensiv zum Schutz der eigenen Gewässer eingesetzt. Bereits während des Krieges, nämlich im März 1918, wurde die „Dreadnought“ nach nicht einmal einem Dutzend Jahren außer Dienst gestellt. 1923 wurde das Großkampfschiff, das einer Schiffsklasse und sogar einer Ära seinen Namen gegeben hatte, zum Abwracken verkauft.