Von Josef Wilhelm Knoke
Im Vorfeld der Gründung der UdSSR gab es zwei kontrovers diskutierte Fragestellungen: a) Sollte die Organisationsstruktur des Staates eher föderalistisch oder eher zentralistisch ausgerichtet sein? b) Welchen Spielraum sollten „Nationalitäten“ bzw. Nationalstaaten in diesem Gebilde haben? Im Zarenreich wurde bis zuletzt am Konzept des „einheitlichen, unteilbaren Russlands“ festgehalten und dementsprechend ein föderalistisches Nationalitätenkonzept abgelehnt. Auch die Bolschewiki standen bis 1917 einem föderativen Aufbau Russlands klar ablehnend gegenüber, basierend auf Marx und Engels, die den proletarischen Einheitsstaat propagierten.
Lenin sagte dazu 1913 in seinem Artikel „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“: …solange und soweit verschiedene Nationen einen Einheitsstaat bilden, werden die Marxisten unter keinen Umständen das föderative Prinzip oder die Dezentralisation propagieren. Der zentralisierte Staat ist ein gewaltiger historischer Schritt auf dem Wege von der mittelalterlichen Zersplitterung zur zukünftigen sozialistischen Einheit der ganzen Welt…
Mit der Machtergreifung setzte jedoch bezüglich der Haltung zum Föderalismus ein Wandel ein. So sprach im November 1917 der Rat der Volkskommissare in einer „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ von Gleichheit, Souveränität und Selbstbestimmungsrecht der Völker Russlands. Die von Lenin und Stalin unterzeichnete Deklaration bestätigt in Punkt 2 „das Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung bis zur Loslösung und Bildung eines unabhängigen Staates“. Das hatte allerdings Folgen. Denn es bildeten sich in schneller Folge mehr als 40 national-territoriale Gebilde heraus, von denen sich einige als unabhängige Nationalstaaten konstituierten. Um einen weiteren Zerfall zu vermeiden, kam die Regierung in Zugzwang. War man bei Finnland noch bereit, die Unabhängigkeit anzuerkennen, tat man dies bei der Ukraine bereits nicht mehr, sondern suchte nun nach einem föderativen Ausweg. Im Januar 1918 setzte der III. Allrussische Sowjetkongress den föderativen Gedanken endgültig durch und beauftragte das ZEK mit der Ausarbeitung einer Verfassung der „Russischen Föderativen Republik“.
Diese gewissermaßen durch die Umstände erzwungene Hinwendung der Bolschewiki zum Föderalismus wurde von Lenin theoretisch unterbaut. Dabei ließ er aber keinen Zweifel, dass dies ein taktischer Schritt war auf dem Weg zu einem zukünftigen unitarischen Konzept. So schreibt er 1918 in „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“: „In der Regel ist die Föderation im Rahmen einer wirklich demokratischen Ordnung […] nur ein Übergangsschritt zu einem wirklich demokratischen Zentralismus. Am Beispiel der Russischen Sowjetrepublik zeigt sich…besonders anschaulich, dass…die Föderation, die wir einführen…der sicherste Schritt ist zur dauerhaftesten Vereinigung der verschiedenen Nationalitäten Russlands zu einem einheitlichen, demokratischen zentralisierten Sowjetstaat.“ Und 1920 in seinen „Thesen zur nationalen und kolonialen Frage“: „ Die Föderation ist eine Übergangsform zur völligen Einheit der Werktätigen verschiedener Nationen…“. Daraus wird deutlich, dass sich seine Haltung zum föderativen Konzept im Laufe der Jahre fundamental verändert hatte, diese veränderte Haltung jedoch vorwiegend auf pragmatisch-taktischen Erwägungen beruhte. Die gewandelte Einstellung zu einer föderativen Organisation bezog sich allerdings ausschließlich auf die staatliche Organisation, nicht auf die Parteiorganisation. „The Ukraine, Latvia, Lithuania, and Belorussia exist at this time as separate Soviet republics. Thus is solved for the present the question of state structure. But this does not mean that the Russian Communist Party should, in turn, reorganize itself as a federation of independent Communist parties. […] there must exist a single centralized Communist Party with a single Central Committee leading all the party work in all sections of the RSFSR.” Gerade durch die strikt zentralisierten Parteistrukturen, die ihm Durchgriff auf regionale politische Einheiten erlaubten, sah Lenin offensichtlich die Möglichkeit für eine flexiblere Einstellung zu föderativen staatlichen Strukturen.
Hinsichtlich Nationalitäten und Nationalstaaten hatte sich Lenin bereits früh für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausgesprochen. Es wurde auf seine Initiative hin 1903 unter § 9 in das Parteiprogramm der SDAPR aufgenommen. 1913 äußert er sich zur Frage der Selbstbestimmung der Nationen, indem er diesen Artikel 9 des Parteiprogramms interpretiert: „Der Paragraph unseres Programms (über die Selbstbestimmung der Nationen) darf nicht anders ausgelegt werden als im Sinne politischer Selbstbestimmung, d.h. des Rechtes auf Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates.“ Dies stand im deutlichen Gegensatz zum linken Flügel der Bolschewiki, die den Paragraphen sogar streichen wollten, weil die Möglichkeit der Sezession und Bildung neuer Nationalstaaten im Widerspruch zum internationalen Charakter des Marxismus stehe.
Stalins Haltung als Volkskommissar für Nationalitätenfragen war dagegen eher von einer großrussischen Einstellung geprägt. Den Föderalismus sah er als Übergangsphase zum sozialistischen Unitarismus, aber unter Führung der RSFSR. Zwischen ihm und Lenin gab es massive Meinungsunterschiede dazu, ob es verschiedene Stufen und Formen föderativer Verbindungen gäbe oder nicht. Lenin sah diese, Stalin nicht. Lenin wollte einen Bundesstaat auf Grundlage formeller Gleichberechtigung der verschiedenen Sowjetstaaten, Stalin eine Eingliederung in die RSFSR. (Eine solche Inkorporation bestand de facto bereits in Form der als Militär- und Wirtschaftsunion errichteten „Vertragsföderation“ zwischen der RSFSR und den nichtrussischen Sozialistischen Sowjetrepubliken.)
„Autonomie bedeutet nicht Abspaltung, sondern den Bund eines selbst herrschenden Bergvolkes zusammen mit dem russischen Volk“, so Stalin 1920 zu den Nord-Kaukasiern.
Der Konflikt eskalierte, nachdem Stalin im August 1922 seinen Entwurf „über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der RSFSR und den unabhängigen Republiken“ vorlegte, in dem er vorschlug, die nicht-russischen sozialistischen Sowjetrepubliken der RSFSR einzuverleiben, was von Georgien, Weißrussland und der Ukraine mehr oder weniger deutlich abgelehnt wurde. Trotzdem wurde der Entwurf vom ZK der KPR am 23./24.September gebilligt, zum Unwillen Lenins. Nach einer Aussprache mit Stalin schrieb Lenin Ende September an das Politbüro, und skizzierte darin seine Gedanken für einen sowjetischen Bundesstaat in Gestalt der „ Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens“, basierend auf formeller Gleichberechtigung der Gliedstaaten.
Stalin machte einen taktischen Rückzieher und formulierte seinen Entwurf leicht um. Dieser wurde dann von den einzelnen Sowjetrepubliken im Grundsatz gebilligt, auf dem I. Sowjetkongress der UdSSR am 30.12.1922 bestätigt. Der Unionsvertrag wurde noch am selben Tag geschlossen, Gründungsmitglieder der UdSSR waren die RSFSR, die Ukrainische SSR, die Weißrussische SSR und die TSFSR (Armenien, Azerbeidschan, Georgien).
Somit war theoretisch eine Föderation gleichberechtigter Staaten geschaffen, wobei sich faktisch an der Hegemonie der RSFSR, deren Bevölkerung über 70 % und deren Territorium über 90 % des Gesamtstaates ausmachte, nichts änderte.
Obwohl Lenin sich weitgehend durchgesetzt hatte, war er mit Stalins Vorgehen allgemein und speziell in der georgischen Frage, wo das Selbstbestimmungsrecht ad absurdum geführt wurde und es zu einem Rücktritt des georgischen Zentralkomitees kam, überhaupt nicht einverstanden. Er forderte am 4.Januar schriftlich die Absetzung Stalins und bereitete weitere Aktivitäten gegen Stalin vor, wozu es aber durch seinen dritten Schlaganfall Anfang März 1923 nicht mehr kam.