Vor 200 Jahren legte Franz II. die Kaiserkrone des Sacrum Imperium nieder
Von Manuel Ruoff
Kann das Heilige Römische Reich uns Vorbild sein? Bezüglich seines Zustandes vor nunmehr 200 Jahren bei der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. läßt sich diese Frage mit Nein beantworten. Damals war das Sacrum Imperium nur noch ein Schatten seiner selbst. Dem ersten Kaiserreich (von 962) erging es im Grunde ähnlich wie dem zweiten (von 1871). Als es aufgelöst wurde, gab es fast niemanden, der sich für es stark machte. Der Nachfolger aber wurde von den Zeitgenossen als derart unbefriedigend empfunden, daß eine Sehnsucht nach der romantisch verklärten „guten alten Zeit“ von Kaiser und Reich aufkam. Die Zeiten von Franz II. wünschte sich dabei kaum einer herbei. Der Blick ging weiter zurück bis in die Zeit vor preußisch-österreichischem Dualismus und Glaubensspaltung, nämlich ins Mittelalter, als – so die historisch begründete, aber übertriebene Meinung – der Kaiser stark und das Reich einig war. In dieser Zeit der Romantik erlebt die Kyffhäusersage eine Renaissance. Zum Idealtypus eines Herrschers wird Kaiser Barbarossa, der im Hochmittelalter regierte und an dessen Tod im Jahre 1190 der Anfang vom Ende festgemacht wurde.
Wie groß die Sehnsucht nach Kaiser und Reich war, zeigt die 48er Revolution. Obwohl es sich hierbei um eine bürgerliche, liberal-demokratische Erhebung handelte, wünschte doch nur eine Minderheit eine Republik, während die Mehrheit ein Anknüpfen an die Reichstradition einschließlich Kaiser wollte.
Die Anhänger des Reichsgedankens fanden sich vor allem im traditionell eher liberal geprägten deutschen Süden. Die Preußen hingegen, von denen die Deutschen schließlich ihr zweites Reich erhielten, standen dem Reichsgedanken ungleich gespaltener gegenüber. So war 1871 bei den Preußen durchaus umstritten, ob der unter ihrer Führung geschaffene neue Staat ein kleindeutsches Reich oder nicht vielmehr ein Großpreußen sein sollte. Die Altpreußen störte am Heiligen Römischen Reich, daß es österreichisch und katholisch geprägt war, während der neue Staat eher preußisch und protestantisch dominiert sein sollte.
Wenn Bismarck auch weder Liberaler noch Romantiker war, so war er doch Realpolitiker genug, um die werbende Kraft von Kaiser und Reich für das neue Staatsgebilde zu nutzen. So erhielt der um die süddeutschen Verbündeten im Deutsch-Französischen Krieg erweiterte Norddeutsche Bund die Bezeichnung „Deutsches Reich“ und Wilhelm I. als erster Mann, als Präsidium an der Spitze des Bundes den Titel „Deutscher Kaiser“. Wie sehr sich schließlich die Preußen mit der Vorstellung arrangiert hatten, daß der unter ihrer Führung geschaffene Staat in der Tradition des Heiligen Reiches gesehen wurde, zeigt das von 1890 bis 1896 entstandene Kyffhäuserdenkmal, in dem Wilhelm I. in die Tradition Friedrich Barbarossas gestellt wird.
Auch die Weimarer Republik hatte keine Berührungsängste mit den Kaiserreichen. Es übernahm die Bezeichnung Reich, und die Wahl der Staatsfarben Schwarz-Rot-Gold wurde im Flaggenstreit nicht zuletzt damit gerechtfertigt, daß es die Farben des Alten Reiches gewesen seien.
Wie die Bezeichnung „Drittes Reich“ bereits deutlich macht, sah sich der NS-Staat in der Tradition beider Kaiserreiche.
Der Bruch kam nach 1945. Vordergründig verzichteten die beiden Nachkriegsstaaten auf dem Boden des Reiches auf die Bezeichnung „Reich“, um ihren provisorischen Charakter deutlich zu machen. Seit der Wiedervereinigung versteht sich die Bundesrepublik Deutschland allerdings nicht mehr als Provisorium, ohne daß deshalb eine ernsthafte Diskussion aufgekommen wäre, an die Traditionen des Reiches anzuknüpfen. Das liegt nicht zuletzt daran, daß die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor analog zur damaligen DDR den sogenannten deutschen Sonderweg ablehnt und sich primär als Verbündeter der (mittlerweile ehemaligen) Besatzungsmächte definiert, deren moralische Überlegenheit man nicht müde wird zu betonen. Das Reich hingegen verstand sich nicht als minderwertiger Appendix, sondern als unabhängige Zentralmacht Europas in der Tradition des Römischen Imperiums. Das ist für die Bundesrepublik auf absehbare Zeit eine Schuhnummer zu groß. Damit die nächste Generation gar nicht erst in Versuchung geführt wird, Vergleiche anzustellen, wird das Reich im Schulunterricht lieber nur beiläufig behandelt.
Der Europäischen Union könnte das Heilige Reich jedoch problemlos Vorbild sein. Sie hätte im Gegensatz zur Bundesrepublik das Potential, ein Fels in der Brandung zu sein und als Mittler zwischen den Kulturen zu wirken, wie es das Reich zwischen dem Westen und dem Osten des Okzidents getan hat. Das Reich war in seiner besten Zeit eine Friedensmacht. Es brauchte aufgrund seines Potentials niemanden zu fürchten, stellte aber – nicht zuletzt wegen seiner föderalen Struktur – nie eine chronische Bedrohung seiner Nachbarn dar. Diese Rolle könnte und sollte vielleicht auch die Europäische Union spielen.
Zwei Faktoren sprachen bis jetzt dagegen, das Reich als Vorbild zu wählen. Zum einen bildete das Zentrum des Reiches Mitteleuropa mit Wien, Regensburg, Nürnberg etc., während das Zentrum der Europäischen Gemeinschaften traditionell eher der französische Sprachraum mit Brüssel, Straßburg, Luxemburg etc. darstellt. Das ändert sich jedoch im Zuge der 1990 begonnenen Erweiterungen im Osten. Zum anderen wurde das Reich als „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ vor allem im Nationalismus des 19. Jahrhunderts primär als deutscher Nationalstaat wahrgenommen. Dabei stammt der Zusatz „deutscher Nation“ erst aus dem Spätmittelalter. Dazu paßt, daß diverse Kaiser gar keine Deutschen waren. Das Heilige Römische Reich war, wie der Name schon vermuten läßt, ein wie das Römische Imperium übernationales Gebilde, das durch eine heilige, sprich nicht profane Staatsidee zusammengehalten wurde. An einer über das Profane hinausgehenden Staatsidee mangelt es der Europäischen Idee allerdings noch ebenso wie an einer Symbolik, wie sie das Reich besessen hat.