Vor 100 Jahren endete die wohl berühmteste Affäre der Dritten Republik mit der Rehabilitierung des Offiziers
Von Manuel Ruoff
Kein Fall hat je in der ganzen zivilisierten Welt ein solch umfassendes und weitreichendes Interesse erregt.“ Das sind starke Worte. Sie stammen vom damaligen US-amerikanische Botschafter in Paris James B. Eustis. Zweifellos ist die Dreyfus-Affäre das prominenteste Symptom des Antisemitismus im Westen und eine der spannendsten Kriminalgeschichten der Dritten Republik.
Am 20. Juli 1894 sucht der chronisch klamme Bataillonschef des 74. französischen Infanterieregiments Major Ferdinand Esterhaz, die deutsche Botschaft in Paris auf und bietet dem Militärattaché Oberstleutnant Max von Schwartzkoppen seine Dienste als Agent an. Die beiden kommen ins Geschäft und einige Wochen später schreibt Esterhazy Schwartzkoppen: „Mein Herr, obwohl ich ohne Nachricht von Ihnen bin, daß Sie mich zu sehen wünschen, sende ich Ihnen einige interessante Auskünfte …“. Der Adressat zerreißt den Brief und schmeißt ihn in den Papierkorb. Dieser Papierkorb wird von einer Putzfrau geleert, die als Agentin für die „Sektion für Statistik“ des französischen Generalstabs, sprich den Geheimdienst, arbeitet und das sogenannte Bordereau (Zettel) diesem zukommen läßt. Die Vielfalt und Qualität der im „Bordereau“ genannten Geheimnisse läßt die „Sektion für Statistik“ auf einen jungen Artillerieoffizier im Generalstab tippen, der erst seit kurzem sein Patent hat und dort geschult wird. Dieser Beschreibung entspricht der einzige Jude im Generalstab, Hauptmann Alfred Dreyfus. Ein erster Vergleich des „Bordereau“ mit Schriftstücken aus der Feder Dreyfus’ scheint den Verdacht zu erhärten.
Am 15. Oktober 1894 wird Dreyfus unter einem Vorwand in das Büro des Generalstabschefs gerufen. Dort wird ihm ein Brief diktiert, in dem Wörter aus dem „Bordereau“ vorkommen. Anschließend wird er verhaftet. Es gibt zwar Unterschiede zwischen den Schriften, doch wird dieses entlastende Indiz damit abgetan, daß Dreyfus beim „Bordereau“ seine Schrift verstellt habe.
Vom 19. bis 22. Dezember wird Dreyfus in Paris vor dem Obersten Kriegsgericht der Prozeß wegen Landesverrats gemacht. Die Beweislage ist dünn. Deshalb legt die „Sektion für Statistik“ ohne Wissen von Verteidigung, Anklage und Öffentlichkeit dem Gericht eine sogenannte Geheimakte vor, in der Indizien einseitig zum Schaden Dreyfus’ interpretiert werden und auch vor einer Fälschung nicht zurückgeschreckt wird. Am 2. November hatte der Militärattaché des seinerzeit mit Deutschland verbündeten Italien in Rom ein chiffriertes Telegramm aufgegeben: „Es wäre ratsam, der Botschafter veröffentlichte ein offizielles Dementi, um Pressekommentare zu vermeiden.“ Den französischen Kryptographen waren jedoch einige Wörter entgangen. Major Joseph Henry von der „Sektion für Statistik“ ersetzt diese fehlenden Wörter selbstherrlich durch: „Dreyfus verhaftet, Vorsichtsmaßnahmen getroffen, unser Gesandter benachrichtigt“. Die „Geheimakte“ tut ihre Wirkung. Dreyfus wird schuldig gesprochen. Die verhängte Strafe lautet Verbannung und militärische Degradierung. Am 5. Januar 1895 wird Dreyfus in der Ecole Militaire öffentlich degradiert, wozu auch das Zerbrechen seines Säbels gehört. Zwölf Tage später beginnt seine Deportation nach dem Verbannungsort, der zu Französisch-Guayana gehörenden Teufelsinsel.
Ein gutes Jahr später findet mit dem sogenannten „Petit bleu“ erneut ein wichtiges zerrissenes Stück Papier aus dem Papierkorb des deutschen Militärattachés seinen Weg in die „Sektion für Statistik“. Der mittlerweile neue Chef des Nachrichtendienstes heißt Georges Picquart. Picquart ist hochintelligent und bei seiner mit der Berufung an die Spitze der Sektion einhergehenden Beförderung zum Oberstleutnant der jüngste Mann dieses Ranges in der gesamten Republik. Er weiß die Bedeutung der über 30 Schnipsel richtig einzuschätzen. Zusammen bilden sie einen Briefentwurf an den „Herrn Major Esterhazy, 27, Rue de la Bienfaisance“ mit dem verdächtigen Inhalt: „Monsieur, vor allem erwarte ich eine detailliertere Erklärung, als Sie sie mir neulich über die offene Frage gegeben haben. Deshalb bitte ich Sie, sie mir schriftlich zu geben, um beurteilen zu können, ob ich meine Verbindung zum Haus R. aufrechterhalte oder nicht.“ Esterhazy gerät ins Fadenkreuz der „Sektion für Statistik“ und seine Korrespondenz mit Schwartzkoppen wird nun abgefangen. Ende August kommt Picquart auf die Idee, Esterhazys Briefe mit dem „Bordereau“ zu vergleichen. Der Schriftvergleich belastet Esterhazy eindeutig – und entlastet Dreyfus. Nun interessiert Picquart, worauf sich die Dreyfus belastende „Geheimakte“ stützt, von deren Existenz er weiß, denn dafür gehört er der Sektion lange genug an. Bei der Durchsicht der Akte erkennt er deren manipulativen Charakter. Picquart erstattet seinen Vorgesetzten über das entdeckte Ungeheuerliche Bericht, aber dort zeigt man sich bemerkenswert desinteressiert. Sein direkter Vorgesetzter, der für den Geheimdienst zuständige stellvertretende Generalstabschef
Charles-Arthur Gonse verdonnert ihn gar zum Schweigen. Picquart antwortet mit den berühmten Worten: „Ich weiß nicht, was ich tun werde, aber keinesfalls werde ich dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen.“ Sicherheitshalber wird Picquart kaltgestellt. Er wird auf einen vergleichsweise unwichtigen Posten versetzt.
Sein alter Gegenspieler in der „Sektion für Statistik“, Henry, wird sein Nachfolger an deren Spitze. Um sicherzugehen erweitert er die „Geheimakte“ um weiteres von ihm manipuliertes scheinbares Belastungsmaterial gegen Dreyfus. Hierzu bedient er sich unter anderem eines Briefes des italienischen an den deutschen Militärattaché, in dessen Besitz die „Sektion für Statistik“ auf die übliche Weise gekommen ist. Er kombiniert den oberen Teil des Briefes mit dem Briefkopf und den unteren Teil mit der Unterschrift mit einem zusätzlichen Stück Papier in der Mitte, auf das er mit verstellter Handschrift schreibt: „Ich las, ein Deputierter wird eine parlamentarische Anfrage über Dreyfus stellen. Falls man in Rom neue Erklärungen anfordern sollte, ich werde sagen, ich hätte zu diesem Juden nie Kontakt gehabt. Das ist abgemacht. Falls man Sie fragen sollte, sagen Sie ebenso, denn niemand darf jemals erfahren, was mit ihm gewesen ist.“ Diese drei Teile klebt er so zusammen, daß der Eindruck entsteht, es handele sich um einen auf die übliche Weise aus Schnipseln aus dem Papierkorb von Schwartzkoppen rekonstruierten Brief.
Ein gutes Jahr nach Picquart erkennt auch ein Immobilienmakler und Bankier die Handschrift des zwischenzeitlich veröffentlichten „Bordereau“. Er identifiziert sie als die seines Kunden Esterhazy und informiert Alfred Dreyfus’ Bruder Mathieu Dreyfus über seine Entdeckung. Bereits wenige Tage später, am 15. November 1897, zeigt dieser Bruder Esterhazy an. Einen Tag später beantragt der so Angezeigte selbst eine Untersuchung gegen sich. Der nur zweitägige Prozeß vor dem Kriegsgericht gegen Esterhazy endet jedoch am 11. Januar 1898 mit Freispruch.
Nach dieser juristischen Niederlage des Dreyfus-Lagers wird Frankreichs Intelligenz aktiv, allen voran Emile Zola. Der berühmte Schriftsteller schreibt einen offenen Brief an den Präsidenten der Französischen Republik, in dem er das Dreyfus angetane Unrecht anklagt. Diese Anklage wurde von dem späteren Ministerpräsidenten Georges Clemenceau als Aufmacher in
„L’Aurore“ unter der Überschrift „J’accuse“ (Ich klage an) als Aufmacher abgedruckt. Diese Anklage machte Furore. Ganz bewußt wollte Zola mit den in dem Text enthaltenen Anschuldigungen gegen das Militär und dessen Justiz eine Verleumdungsklage gegen sich provozieren, um den Fall Dreyfus vor einem Zivilgericht thematisieren zu können.
Am 7. Februar 1898 wird der provozierte Prozeß vor dem Schwurgericht des Departements Seine im Palais de Justice eröffnet. „L’Aurore“ und „Siecle“ informieren die Öffentlichkeit lückenlos über den Prozeßverlauf. Die Wende zu Zolas Niederlage bringt der Hinweis seiner Gegner auf den scheinbar Dreyfus belastenden gefälschten Brief des italienischen Militärattachés an dessen deutschen Kollegen. Am 23. Februar wird Zola zur Höchststrafe verurteilt, ein Jahr Gefängnis und 3000 Franc Geldbuße. Wegen Formfehlern kommt es zu einem zweiten Prozeß, doch wird das Ergebnis des ersten am 18. Juli bestätigt. Noch in der selben Nacht flieht Zola nach England.
Der Kriegsminister will nun den Sieg perfekt machen und verweist öffentlich auf den von Henry gefälschten scheinbar Dreyfus belastenden Brief aus der „Geheimakte“. Picquart reagiert darauf, indem er in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten auf den manipulativen Charakter dieser Akte hinweist. Um Picquart zu widerlegen, beauftragt der Minister seinen Ordonanzoffizier, die Echtheit der Unterlagen zu überprüfen. Dabei entdeckt dieser zum Entsetzen seines Chefs am 13. August 1898, daß es sich bei dem Brief des italienischen Militärattachés tatsächlich um eine Fälschung handelt. Er erkennt unter Lampenlicht, daß Größe und Farbe des Rautenmusters des Papiers bei den Originalteilen des Briefes und dem von Henry eingesetzten mittleren Teil nicht identisch sind. Mit diesem Faktum konfrontiert, gesteht Henry. Er wird verhaftet und am nächsten Tag mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Der Kriegsminister kann sich mit seiner Politik, den Vorfall zu ignorieren, im Kabinett nicht durchsetzen, und tritt am 3. September 1898 zurück. Am selben Tag stellt Alfred Dreyfus’ Ehefrau, Lucie Dreyfus, einen Revisionsantrag. Am 26. September entscheidet der Ministerrat, das Kassationsgericht solle sich mit dem Revisionsantrag befassen.
In der Tat kommt es vom 7. August bis zum 9. September 1899 in Rennes zu einem zweiten Prozeß. Es kommt zu einem Kuhhandel, welcher der Armee ihr Gesicht wahren läßt und Dreyfus die Freiheit bringt. So wird der Angeklagte einerseits erneut schuldig gesprochen, aber andererseits werden ihm mildernde Umstände bescheinigt und ihm wird in Aussicht gestellt, vom Präsidenten der Republik begnadigt zu werden. Dreyfus, dem die Haftbedingungen auf der Teufelsinsel psychisch und körperlich zugesetzt haben, stimmt auf Drängen seiner Familie dem Handel zu. Er verzichtet auf eine Berufung und wird dafür begnadigt.
Drei Jahre später hält der Sozialistenführer Jean Jaurés die Zeit für gekommen, sich nicht mehr mit diesem (faulen) Kompromiß zu begnügen. Schließlich erfolgreich fordert er eine Wiederaufnahmeverfahren des Falles. Am 12. Juli 1906 hebt das Kassationsgericht das Urteil von Rennes auf und spricht Dreyfus vom Vorwurf des Landesverrats frei. Die Rehabilitation ist vollständig. Nach dem Urteil wird er wieder in die Armee aufgenommen, zum Schwadronskommandeur und Major befördert sowie Ritter der Ehrenlegion. An seine 1894 jäh unterbrochene zu den größten Hoffnungen Anlaß gebende Offizierskarriere kann er jedoch nicht wieder anknüpfen. Ein gutes Jahr später, im Oktober 1907, wird er in den Ruhestand versetzt. Nachdem er sich im Ersten Weltkrieg noch einmal hat reaktivieren lassen, stirbt der Oberstleutnant 1935 75jährig in Paris.