Der deutsche Föderalismus reicht bis zur Ausstellung der Goldenen Bulle vor 650 Jahren zurück
Von Manuel Ruoff
Um die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland voranzutreiben, wurde die Theorie vom unsäglichen „deutschen Sonderweg“ entwickelt, den es ein für allemal zu verlassen gelte, wobei der statt dessen zu beschreitende westliche Weg wie selbstverständlich als normal vorausgesetzt wird. Die für Deutschland tatsächlich charakteristische Tradition der Zersplitterung, der Uneinigkeit und des Föderalismus, die dazu führte, daß das Land im Gegensatz zu seinen westlichen Nachbarn erst verspätet einen Nationalstaat erhielt, wird dabei allerdings nicht als Bestandteil des „deutschen Sonderweges“ beklagt. Das ist bemerkenswert, aber auch verständlich, denn während die gerne kritisierte deutsche Tradition, als Brücke und Mittler zwischen Ost und West eine eigene Position zu beziehen, statt sich wie die Bundesrepublik in den Westen zu integrieren, nicht dem Willen der an einer deutschen Westbindung interessierten Westmächte entspricht, gereichte der deutsche Föderalismus den westlichen Großmächten des öfteren zum Vorteil. Man denke nur an den Dreißigjährigen Krieg, den preußisch-österreichischen Dualismus oder die deutsche Kleinstaaterei.
Insofern ist es auch verständlich, daß die westlichen Besatzungsmächte dem Föderalismus durch die Väter und Mütter des Grundgesetzes Verfassungsrang geben ließen. So heißt es in Artikel 20: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein … Bundesstaat.“ Um zu verhindern, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik die entsprechenden föderalistischen Passus ihres Grundgesetzes streicht, um diesen deutschen Sonderweg zu beenden, heißt es sicherheitshalber in Artikel 79, Absatz 3: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Bis zur Wiedervereinigung bestand noch die Möglichkeit, daß die Deutschen das föderalistische Grundgesetz durch eine zentralistischere Verfassung nach dem Vorbild der sonst so gerne als vorbildlich dargestellten westeuropäischen Nationalstaaten ersetzt, doch ist dem Grundgesetz durch Änderung seiner Präambel sein provisorischer Charakter inzwischen genommen. Damit ist der Fortbestand des deutschen Föderalismus festgeschrieben.
Doch wo sind die Wurzeln dieses deutschen Föderalismus? Sie reichen bis weit ins Mittelalter zurück, bis zur Goldenen Bulle und noch darüber hinaus, da die Bulle, wie alle mittelalterlichen Gesetzestexte, weniger neues Recht schuf als vielmehr altes Recht festschrieb.
Kaum aus Rom zurück, wo er sich zum Kaiser hatte krönen lassen, berief Karl IV. Ende November 1355 einen Reichstag zu Nürnberg ein. Nach vorheriger Absprache mit den Kurfürsten erließ er hier am 10. Januar 1356 ein Reichsgesetz über die Königswahl und die Kurfürstenrechte, das seiner kostbaren Besiegelung wegen seit dem 15. Jahrhundert „Goldene Bulle“ genannt wird. Auf einem weiteren Reichstag in Metz wurde es zu Weihnachten des selben Jahres ergänzt.
Erstmals und endgültig wurde die Bestimmung des deutschen Königs durch die sieben Kurfürsten gesetzlich geregelt. Zum König ist bestimmt, wer bei der Wahl, zu welcher der Erzbischof von Mainz in die Frankfurter Bartholomäuskirche einlädt, die Mehrheit der Stimmen der Kurfürsten oder ihrer Vertreter auf sich vereint. Als erstes stimmen die Erzbischöfe von Trier und Köln ab. Es folgen die weltlichen Kurfürsten, sprich der König von Böhmen, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen-Wittenberg und der Markgraf von Brandenburg. Die letzte, gegebenenfalls entscheidende Stimme hatte der Mainzer Erzbischof. Deutschland war damit wie Polen, das ebenfalls erst verspätet einen Nationalstaat erhielt, eine Wahlmonarchie. Die zumindest potentiellen Folgen waren innerdeutscher Zwist zwischen den um die Kaiserkrone konkurrierenden Landesherren und deren Territorien, verstärkte Einflußmöglichkeiten des Auslandes durch Bestechung von Kurfürsten sowie eine Stärkung der Landesfürsten – zumindest jener mit Kurhut – gegenüber der Zentralgewalt, dem Kaiser.
Die Gültigkeit der Goldenen Bulle endete erst mit dem Ende des Reiches. Nachdem Franz II. im Jahre 1806 die Kaiserkrone niedergelegt hatte, zerfiel das fast tausendjährige Reich – soweit nicht von Frankreich annektiert – in drei Teile, die beiden Großmächte Österreich und Preußen sowie die im Rheinbund zusammengeschlossenen deutschen Mittel- und Kleinstaaten. Mit seiner Westbindung und der territorialen Beschränkung auf das sogenannte dritte oder reine Deutschland weist dieser auf Betreiben Napoleons gegründete Bund interessante Ähnlichkeiten mit der knapp eineinhalb Jahrhunderte ebenfalls auf Anregung aus dem Westen gegründeten Bundesrepublik auf. Mit Frankreichs Vorherrschaft in Deutschland endete auch der Rheinbund in den Befreiungskriegen.
Bei der Neuordnung Europas nach Frankreichs Niederlage beziehungsweise Befreiung von der napoleonischen Herrschaft wurde auf dem Wiener Kongreß als Nachfolger für das Heilige Reich der Deutsche Bund gegründet, ähnlich der Europäischen Union eine Mischform von Staatenbund und Bundesstaat, eine Konstruktion sui generis. Dieser, wie das späte Reich, österreichisch dominierte Bund endete mit Österreichs Niederlage im Deutschen Krieg 1866.
Der Kriegsverlierer akzeptierte nicht nur das Ende des Deutschen Bundes, sondern auch die Einigung Norddeutschlands durch den Kriegssieger im Norddeutschen Bund. Aus diesem Bund entwickelte sich im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 durch Beitritt der süddeutschen Mittel- und Kleinstaaten das Deutsche Reich. Das Kaiserreich beruhte auf einem Zusammenschluß souveräner Fürsten und Städte und war entsprechend föderalistisch.
Als Folge der Novemberrevolution wurde die kaiserliche, Bismarcksche Verfassung durch die Weimarer ersetzt. Diese Verfassung wurde im Gegensatz zum Bonner Grundgesetz weder auf Veranlassung noch unter dem Einfluß von Besatzungsmächten geschrieben. Im Vergleich mit dem Grundgesetz bot sie dem Volk nicht nur mehr Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten (und war damit plebiszitärer, um nicht zu sagen demokratischer), sondern sie war auch zentralistischer.
Ihren Höhepunkt erreichte die Zentralisierung jedoch im nationalsozialistischen Totalitarismus.
Und das ist neben der Tradition das beliebteste Argument gegen eine starke Zentralgewalt in Deutschland.