Von Josef Wilhelm Knoke
Man spricht heutzutage wieder von einer Renaissance der Etikette, also eines Kanons an Verhaltensformen, die man unter zivilisierten Menschen voneinander erwarten darf als Ausdruck von Respekt und Wertschätzung. Dies kommt unter anderem auch in der Sitzordnung zum Ausdruck, die bei festlichen Anlässen vom Gastgeber vorgegeben wird. In Politik und Diplomatie waren Fragen der Sitzordnung von jeher eine Angelegenheit, auf die der Protokollchef, zum Beispiel bei Staatsbanketten, viel Gedanken verwendete, um keine Verstimmungen hochgestellter Gäste hervorzurufen. Heutzutage würde es aber kaum jemand einfallen eine Sitzordnung, die seiner Meinung nach nicht der ihm gebührenden Position Rechnung trägt, öffentlich zu reklamieren, und einen besseren Platz auf Kosten anderer zu fordern.
Im Mittelalter war dies noch anders. Sitzpositionen waren in einer Welt, die stark von formelhaftem Verhalten geprägt war, ein wesentlicher Ausdruck von Rang und Ehre. Beide Begriffe hingen eng zusammen. Als „symbolisch generalisierte Interaktionsfähigkeit in der Oberschicht“ hat Luhmann Ehre bezeichnet. Träger der Ehre war nicht nur das Individuum, sondern auch das von ihm repräsentierte Amt bzw. die zu ihm gehörige Gruppe. Ehre hatte Öffentlichkeitscharakter, öffentliche Ehrschädigung erforderte öffentlich angekündigte Rache bzw. öffentlich vollzogene Ehrenstrafe.
Ehre bezeichnete die Summe dessen, was die Stellung einer Person in einer Lebensordnung ausmachte, den Rang. Die Rangposition aber war im Mittelalter etwas existenziell Wichtiges, weil davon Einfluss, Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten abhingen. Sie wurde häufig angegriffen und musste dann verteidigt werden. Auf ihr beruhte die Stabilität mittelalterlicher Lebens- und Herrschaftsordnung. Ehrminderungen oder Ehrverletzungen wurden daher mit Gewalt beantwortet. Symbolisiert wurde Ehre durch äußere Zeichen, die nicht folgenlos verletzt werden durften. Ein Beispiel dafür waren Sitzordnungen. Diese symbolisierten die Rangfolge in der Gemeinschaft, wobei der Platz neben dem Ranghöchsten demjenigen gebührte, der ihm an Rang und Achtung am nächsten stand (wie in der himmlischen Rangordnung Christus zur Rechten Gottes saß). Da dem Sitz eine so große Bedeutung zukam, konnten nur durch klare Sitzordnungen Streitigkeiten vermieden werden.
Zu welchen Konflikten Verstöße, oder vermeintliche Verstöße, bei der Sitzordnung führen konnten, zeigen uns beispielhaft Ereignisse, die sich am Pfingstfest des Jahres 1063 in Goslar ereignet haben. Lampert von Hersfeld hat uns in seinen Annalen diese Geschichte eines Rangstreits um die bessere (im Sinne von höherrangige) Sitzposition zwischen Hezilo, dem Bischof von Hildesheim und Widerad, dem Abt von Fulda überliefert.
Die Vorgeschichte Weihnachten 1062
Bei einem Treffen in Goslar Weihnachten 1062 kam es zum Streit zwischen Bediensteten des Abtes von Fulda, und des Bischofs von Hildesheim. Anlass war die Sitzordnung. Die Fuldaer beharrten darauf, dass ihr Abt Anspruch auf den Ehrenplatz neben dem Erzbischof von Mainz habe, begründet mit althergebrachtem Gewohnheitsrecht. Die Hildesheimer beanspruchten das gleiche Recht, da Goslar in ihrem Bistum läge und niemand (außer dem Erzbischof) dem zuständigen Diözesanbischof vorgezogen werden dürfe („episcopus causabatur neminem sibi intra diocesim suam post archiepiscopum debere preferri“). Durch das Eingreifen Herzog Ottos von Bayern, der allerdings parteiisch für den Abt war, wurde der Bischof von Hildesheim zum Einlenken gezwungen, in seinem eigenem Bistum, in der Kirche, wo er selbst Propst gewesen war!
So wurde zwar eine Eskalation des Streites vermieden, es blieb bei Handgreiflichkeiten und wüsten Beschimpfungen. Waffen kamen nicht zum Einsatz. Aber diese ehrverletzende Demütigung wurde von Bischof Hezilo nicht vergessen und sollte schon bald gerächt werden.
Die Ereignisse Pfingsten 1063
Wenige Monate später fand, wiederum in Goslar, ein Hoftag statt, bei dem auch der junge König anwesend war. Am Vorabend zu Pfingsten kam es bei der Aufstellung der Sitzgelegenheiten zu einer Wiederholung der Konfrontation zwischen den Bediensteten des Abtes von Fulda und des Bischofs von Hildesheim, wieder wegen der Rangfolge bei der Sitzordnung. Doch diesmal waren die Leute des Bischofs darauf vorbereitet und hatten kampfbereite Männer hinter dem Altar versteckt. Dadurch wurden die Fuldaer offensichtlich überrascht, denn sie hatten die Thematik geklärt geglaubt. Sie wurden von den Hildesheimern unter Einsatz von Fäusten und Knüppeln aus der Kirche getrieben. Die Gottesdienstfeier begann. Inzwischen hatte sich aber ein Teil der Fuldaer mit Waffen versorgt, kam zurück und stürmte die Kirche mit Schwertern („non iam fustibus, sed gladiis gerunt“). Es kam während des beginnenden Gottesdienstes zu einem blutigen Handgemenge mit Toten und Verletzten. Der junge König versuchte dies durch sein persönliches Eingreifen zu unterbinden. Erfolglos. Die Hildesheimer behielten die Oberhand, vertrieben die Fuldaer aus der Kirche und verrammelten die Türen. Inzwischen kamen aber die übrigen Fuldaer zurück, die erst von weiter entlegenen Quartieren Waffen geholt hatten, besetzten die Vorhalle der Kirche, und warteten darauf, dass sich die Türen öffneten. Nur die anbrechende Nacht verhinderte weiteren Kampf.
Am nächsten Tag wurde eine strenge Untersuchung im Beisein des Königs gehalten, bei dem die ganze Last der Anklage einseitig auf den Fuldaer Abt fiel („totus accusationis pondus in abbatem versus est“) . Graf Ekbert (und damit Bischof Hezilo) wurde von jeglicher Schuld freigesprochen, laut Lampert wegen seiner Verwandtschaft mit dem König. Dem Abt dagegen unterstellte man vorsätzliches Handeln, da er ohne Not mit einem großen Aufgebot an bewaffneten Männern gekommen sei. Die Darstellung Lamperts ist sicherlich einseitig gefärbt, vor allem auch in der sarkastischen Darstellung der Gestalt Hezilos. Auch unterstellt er, dass neben der Erbitterung über das Geschehene vor allem ein genereller Hass gegen das Mönchstum eine Rolle bei der Beurteilung der Vorgänge spielte.
Abt Widerad konnte nur durch Einsatz beträchtlicher Geldgeschenke aus dem Klostervermögen einer Verurteilung bzw. Amtsenthebung entgehen und kehrte verbittert und niedergeschlagen („amaro et confecto nimis super tantis calamitatibus animo“) nach Fulda zurück.