Von Joachim Frank
Es hat auch etwas Olympisches, wenn die Verleihung des Literaturpreises der Leipziger Buchmesse ansteht. Der Gewinner wird gesucht, um den geht es vor allen Dingen. Denn den Preis muss ein Namen zieren, ein Gesicht muss ihn fass- und greifbar machen. Und die vier anderen Nominierten? Werden leer ausgehen. Fast leer, denn durch das Erreichen der Shortlist wird der Verkauf auch ihrer Bücher befördert – jedenfalls bis der Preisträger feststeht. Das sind sozusagen die Silber- und Bronzemedaillen oder viermal der vierte Platz, wenn man so will. Immerhin kann man sich von dem in diesem Fall etwas kaufen, denn nie wären deren Bücher ohne das Erreichen der Shortlist so häufig verkauft worden.
Ich bin extra einen Tag früher angereist, um bei der Vorstellung der fünf Kandidaten im Festsaal des ehemaligen Hôtels de Pologne dabei zu sein. Um 20 Uhr ist Einlass, also bleibt eine halbe Stunde zum Umherschauen: Das Publikum ist speziell. Zu bürgerlich-biederen, gleichwohl an Literatur interessierten Leipzigern gesellt sich Blässlich-Durchgeistigtes in mittlerem Alter sowie Professoral-Erhabenes jenseits davon. Man achtet auf einen uniformierten Chic, bevorzugt in Schwarz und Grau, gern mit rotem Schal, lila Pumps oder ähnlichen Alleinstellungsmerkmalen. Sowieso viel wichtiger ist der Gesichtsausdruck zum Rot- oder Weißwein: nämlich wissend. Beinahe jeder sieht hier so aus, als hinge die Vergabe des Preises von seinem Urteil, seinem Wohlwollen, seiner Kennerschaft ab. Wie viele Millionen gelesene Romanseiten sitzen hier beisammen und lauschen nun den einführenden Worten des Literaturredakteurs und Literaturpapstes von Sachsen (O-Ton des Messeleiters: „Die Literaturstimme des MDR“), Michael Hametner, der nun feierlich das Prozedere erklärt. Nein, heute werde der Preis noch nicht verliehen. Heute werde gelesen und interviewt, sodass sich das Publikum ein eigenes Bild machen könne. Wozu eigentlich? frage ich mich, denn entscheiden wird eine Jury. Ach, ja! fällt mir ein, es geht um PR: für die Messe, den Preis, die Autoren und deren Bücher. Dafür braucht es solche Events.
Die Reihenfolge der Autoren ist nach dem Alphabet geordnet. Es beginnt mit dem blässlichen Fabian Hischmann. Er ist ganz modisch frisiert, noch sehr jung und in seinem Auftreten sympathisch ungelenk. Da alle Autoren die ersten zwei Seiten ihrer Romane vorlesen sollen, bleibt für die Hörer nicht mehr als ein vager Eindruck. Warum, so frage ich mich, lässt man die Autoren die zu lesenden Passagen nicht frei wählen? Mich überrascht, dass Herr Hametner, also „die Literaturstimme des MDR“, den jungen Mann im Interview gleich duzt, was in der Reihe vor mir auch sofort ein mokantes Zischeln verursacht. Das vermag ich nicht zu interpretieren, aber da die Höhnenden Blässlich-Durchgeistigte um die vierzig sind, kommt mir ein Verdacht. Doch es bleibt keine Zeit, über das Leipziger Literaturinstitut nachzudenken, dessen Absolventen sich immer wieder auf wundersame Weise in ausgezeichneten Zirkeln wieder finden. Ja, ja, auch Kandidat Hischmann zählt zu ihnen, und er ist nicht der einzige in dieser Runde. Dem Interviewer gelingen keine originellen Fragen und der Kandidat ist zu jung und zu unerfahren, um das Geplänkel aufzumöbeln. Für mich wird er der Kandidat Nummer fünf bleiben, obwohl: Seinen Roman kenne ich noch nicht, und das ist ja irgendwie das Absurde dieser Situation: Wir, das Publikum, sollen uns ein Bild machen, aber wovon eigentlich? Und wozu? Ach, ja, ich vergaß: PR!
Da ist der nächste Kandidat, Per Leo, schon von anderem Kaliber. Geschliffen parliert der promovierte Historiker, er ist Anfang vierzig, über seinen Roman und entreißt dem mitteldeutschen Literaturpapst geschickt die Gesprächsführung. Er sagt, was er für wichtig hält und benutzt dessen Fragen bestenfalls als Ausgangspunkte. Auf seinen Roman bin ich neugierig geworden, und auch die von ihm gelesenen Passagen haben literarisches Format und zeigen deutlich den historisch-philosophischen Anspruch seines Textes. Er wird mein Favorit werden.
Katja Petrowskaja ist im gleichen Alter. Auch ihr Roman handelt von familiärer Vergangenheitsbewältigung, aber sie wirkt ein bisschen zickig, wenn sie darauf besteht, mit ihrem Text gar nichts Literarisches geschrieben zu haben, sondern? So sympathisch es mir ist, dass sie sich nicht in das Prozedere einfügen mag, so wenig gefällt mir ihr Beharren auf dem betont „anderen“. Warum sitzt sie hier, wenn ihr Text gar keine Belletristik sein soll?, frage ich mich und streiche sie aus meiner Liste.
Martin Mosebach ist ein routinierter, vielfach preisgekrönter Altmeister. Souverän sein Text, überlegen seine Antworten. Mit Ironie, Schlagfertigkeit und einem gewissen Charme präsentiert er seinen Text und sich. Natürlich kommt er als Preisträger infrage, aber braucht er diese Auszeichnung? Wohl nicht.
Nicht ganz unähnlich wirkt Saša Stanišić, aber er ist nur halb so alt wie sein Vorredner. Auch er kann das Publikum in seinen Bann ziehen. Der Text ist humorig, treffend, originell und dennoch literarisch anspruchsvoll. Er hat nach seinem sehr erfolgreichen Erstling jetzt mit „Vor dem Fest“ seinen zweiten Roman vorgelegt, und auch er hat das Leipziger Literaturinstitut absolviert. Was natürlich gar nichts heißen soll. Aber das könnte passen, denke ich.
Nach dem offiziellen Teil gehe ich nach vorn, um mir von Per Leo seinen Roman signieren zu lassen. „Oder ist das jetzt unpassend?“, frage ich. „Nein“, sagt er, „jedenfalls viel besser als hier mit Blumen rum zu stehen“. Die hat er wie alle anderen gerade in die Hand gedrückt bekommen. Tolle Antwort, finde ich.
Auf dem Weg die Treppe hinunter komme ich mit einer Dame ins Gespräch und frage sie nach ihrem Favoriten. Zu meiner Überraschung nennt sie Fabian Hischmann, der sei so schön unverfälscht und erfrischend echt. So unterschiedlich können Wahrnehmungen sein.
Am Vormittag des nächsten Tages wird das Ganze in ähnlicher, aber verkürzter Form auf dem Messegelände wiederholt. Noch mal brauche ich das nicht, sondern schaue mich lieber anderweitig um. Gegen 17 Uhr wird es Ernst. Die Glashalle ist bis auf die Empore brechend voll, feierliche Spannung liegt in der schwülwarmen Luft. Nochmals eine kurze Vorstellung der Autoren und ihrer Romane, und dann wird der Sieger verkündet: Saša Stanišić. Neben mir jauchzen ein paar weibliche Fans vor Entzücken. Auch ich finde: Eine gute Wahl, so weit ich das beurteilen kann, denn ich habe immer noch keinen der Romane bisher lesen können.
Am nächsten Tag besuche ich eine Lese- und Fragestunde mit Katja Petrowskaja. Sie wirkt viel sympathischer, entspannter als vorgestern. Ihre Antworten sind sehr überlegt, gewissenhaft. Man merkt ihr an, wie wichtig ihr die Genauigkeit jeder Formulierung ist. Sie hat nichts für die Show übrig. Als ich mir ihr Buch signieren lasse, ist ihr Lächeln bezaubernd und ich bin davon überzeugt, gestern einen ganz falschen Eindruck von ihr bekommen zu haben. Sie hat Ausstrahlung und ist sehr gewissenhaft.
Nachtrag: Ich selbst hatte im Rahmen von „Leipzig liest“ auch eine gut besuchte Lesung in der Stadt, bei der ich mein Buch „Kapverden – Afrikanische Perlen im Atlantik“ mit einer Bilderschau vorstellte. Nach mir traten zwei Vertreterinnen der sogenannten „Frauenliteratur“ auf. Ich dachte: Wenn Du schon mal hier bist … Aber nach zwanzig Minuten hatte ich genug von dem locker-leichten-seichten Unterhaltungsgeplapper von flachem Witz.
Zwei Tage später wieder Zuhause, wollte ich doch mal wissen, wie sich so was verkauft. Also guckte ich auf die Rankings bei Amazon. Und siehe da, dieser literarische Flachflieger lag tatsächlich besser platziert als zwei der Romane, die auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis standen. Ich glaub´, ich schreib´ jetzt auch Frauenromane…