Prä- und postnatale Psychologie und Medizin

Buchcover

Prä- und postnatale Psychologie und Medizin bilden die Schnittstellen psychologischer und medizinischer Diagnostik und Intervention von der Pränatalzeit an bis in die frühe Kindheit. Damit umfassen diese Disziplinen das Ungeborene und den Säugling sowie auch werdende Mütter und Väter in ihrer soziokulturellen Umgebung. Die großen Verbesserungen der letzten Jahrzehnte in Neonatologie und Sozialpädiatrie fußen auch auf den Ergebnissen aus Psychoanalyse und Säuglingsforschung, die jene Disziplinen mitbegründeten.

Der vorliegende Band fasst viele ihrer Ergebnisse nicht nur zusammen, sondern erweitert sie im Hinblick auf zukünftige körpermedizinische und psychosoziale Gestaltungen in ihren klinischen und kulturellen Bezügen.

Das animalische Erbe im Menschen

Im ersten Kapitel nehmen Fellmann, Walsh und Egloff (TU Chemnitz, Universität Münster und Institut für Pränatale Psychologie Heidelberg) eine anthropologische Zusammenschau der Evolution der menschlichen Psyche im Rahmen von Sexualität und Erotik vor. In ihrer Betrachtung emotionaler Intelligenz zeigt sich diese als Überschuss von Paarungsenergie, die in ihrer Abweichung vom reinen Fortpflanzungsziel zu Intimität führt, die selbst als Quelle menschlicher Reflexivität dient. Hieraus ergibt sich ein kohärentes Szenario, in dem Erotik und psychische Entwicklung zusammengehören jenseits von Kognition, also dem, was Menschen gewöhnlich für Denken halten. Stattdessen wirkt das animalische Erbe im Menschen als Movens sowohl für erotische Exploration als auch für emotionale Intelligenz. Die sich hieraus ergebenden konflikthaften Spannungen verweisen auf körperliche Sinnlichkeit in engster Verknüpfung mit psychischem Befinden und legen so eine Grundlage für die Psychosomatik. Fertilität in ihrer psychosomatischen Verfasstheit bildet einen wichtigen Teil hiervon. Wenn es denn um Empfängnisproblematiken geht, werden in erster Linie Lebensstilveränderungen oder Interventionen wie ovarielle Stimulation und Akupunktur ins Feld geführt, um diesen zu begegnen. Während nicht-pharmakologische Ansätze sinnvoll sind, zeigt sich jedoch immer wieder, dass diese zu kurz greifen und in einen psychosomatischen Ansatz integriert werden sollten, der psychische, aber auch übergeordnete Faktoren wie gesellschaftliche Voraussetzungen berücksichtigt, die als „culturally and mentality-based influences“ bezeichnet werden können.

Rupert Linder, Psychosomatiker und Gynäkologe sowie langjähriger Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für prä- und perinatale Psychologie und Medizin Wiesbaden, stellt im zweiten Kapitel seine Erfahrungen in der geburtshilflichen Behandlung und Begleitung schwangerer Frauen vor. Die Integration von Frauenheilkunde, Geburtshilfe und psychotherapeutischer Intervention hat sich nicht nur als für die tägliche Praxis gangbar erwiesen, sondern, wie seiner Praxisstudie zu entnehmen, zu einer Verringerung der Anzahl von Frühgeburten geführt. Daher sollten auch körperliche Probleme werdender Mütter im Gesamtzusammenhang körperlicher und emotionaler Prozesse betrachtet werden, um intervenieren zu können. Die emotionale Geschichte der werdenden Mutter sowie auch den frühen inneren Dialog zwischen ihr und dem ungeboren Kind in den Mittelpunkt zu stellen, bietet potentielle Konfliktlösungen.

Pränatale Dynamik und fötale Existenz

Wie die inneren Welten werdender Mütter aussehen können, illustrieren Olga Gouni und Anastasia Topalidou (Nationale und Kapodistrias- Universität Athen und Universität von Central Lancashire) im dritten Kapitel über pränatale Dynamik und fötale Existenz. Hierbei diskutieren sie den Zusammenhang pränataler Erfahrung mit menschlicher Gesundheit und Entwicklung, ein Forschungsfeld, auf dem in den letzten Jahren ein enormer Wissenszuwachs stattgefunden hat. Mütterliche Erfahrungen zu Zeitpunkten vor, während und nach der Empfängnis sowie jene in der Schwangerschaft können mit pränatalen Prägungen des Kindes in engen Zusammenhang gebracht werden. Die Autorinnen schildern in Fallvignetten zahlreiche, teils drastische Konfliktkonstellationen aus der Praxis. In einem Forschungsüberblick zu Epigenetik und „fetal programming“ weisen sie auf pränatale Prägungen z.B. im Herz-Kreislauf-Bereich hin, die neben den wohlbekannten Einflüssen von Alltagstoxinen wie Tabak und Alkohol tief angelegte Dispositionen darstellen. Es wird deutlich, dass umweltliche Einflüsse auch im engeren Sinne das werdende Kind betreffen. Zu jenen gehört, und das ist die gute Nachricht, auch das „Bonding” als lebenslanger Prozess von Beziehungsbildung.

Auf hirnphysiologischer Ebene beschreibt Otwin Linderkamp, ehemaliger ärztlicher Direktor der Neonatologie der Kinderklinik an der Universität Heidelberg, im vierten Kapitel eindrucksvoll die fötale menschliche Entwicklung im mütterlichen Uterus. Das fötale Gehirn bildet sich innerhalb von ein paar Wochen von einer dünnen Zellschicht hin zu einem komplexen Netzwerk aus, das aus Milliarden Neuronen und Billionen Verbindungen besteht. Deren Anfälligkeit für Umweltfaktoren, zu denen auch „maternal stress“ gehört, ist gut belegt. Bei aller Plastizität und damit auch Reparaturfähigkeit neuronaler Netzwerke lässt sich zeigen, dass gerade allerfrüheste Erfahrungen grundlegend sind.

Im fünften Kapitel widmen sich Egloff und Djordjevic (Institut für Pränatale Psychologie Heidelberg und Universitätsklinik Nis) der prä- und postnatalen Psychosomatik in ihrer sozialen Verfasstheit, eine Perspektive, die nach ihrer letzten Blütezeit in den 1970er und 1980er Jahren erst jetzt langsam wiederentdeckt wird. Der gesellschaftliche Prozess postmoderner Fragmentation und Anomie weist auf die Tendenz zu psychosomatischer Desintegration hin, die sowohl bei Müttern als auch in Familienverbünden als Symptombildung auftritt, mit den entsprechenden gesellschaftlichen Begleiterscheinungen. Nach Slavoj Žižek kann die Lücke, die zwischen Wort und Ding, zwischen Subjekt und Objekt mit Ideologie aufgefüllt wird, dazu dienen, soziale Antagonismen zu überdecken. Daher macht es Sinn, auch die Psychosomatik auf diese Lücke hin zu befragen und subjektivitäts- und objektivitätsbezogene Unterscheidungen in Fragen von Symptombildung zu treffen. Außerdem werden prä- und postnatale Interventionsansätze vorgestellt, die auf Konzepte von Bindung, Beziehung und Erziehung zurückgreifen.

Elterlicher Umgang mit ihren Kindern

Das sechste Kapitel konkretisiert die interaktionelle Perspektive im Rahmen elterlichen Umgangs mit ihren Kindern. Die Zusammenhänge von Erziehungsstilen – dem langjährig anerkannten Konzept der „parenting styles“ nach Diana Baumrind – mit emotionaler Intelligenz und Bindungsstilen diskutiert Elena Nanu, Universität Bukarest. In ihrer Studie untersucht sie 138 Elternteile im Alter von 28 bis 48 Jahren und 74 Kinder auf ihre emotionale Intelligenz sowie auf Erziehungsstile von autoritär, permissiv und autoritativ. Im Zusammenhang mit Bindungsmodi diskutiert sie deren Einfluss auf die kindliche emotionale Intelligenzentwicklung.

In Kapitel sieben wird diese Thematik auf Frühgeborene hin untersucht. Das an der Universität Bologna und in Cesena ansässige Team Neri, Spinelli, Biasini, Stella und Monti beleuchtet die Modi elterlicher Sensibilität in ihrer Wirkung auf die kognitive und interaktionelle Entwicklung frühgeborener Kinder. Frühgeburten betreffen nicht nur Mutter und Kind, sondern können die Qualität der frühen Eltern-Kind-Interaktion erheblich beeinflussen; eine problematische kindliche Entwicklung kann körperlich und seelisch die Folge sein. Die Studienergebnisse zeigen mögliche Beeinträchtigungen kognitiver und interaktioneller Entwicklung.

Ludwig Janus, Gründer des Instituts für Pränatale Psychologie und Medizin Heidelberg, stellt im achten Kapitel einige von Sigmund Freuds Konzepten im Hinblick auf pränatale emotionale Erfahrung dar, indem er den Zeitgeist der Jahrhundertwende befragt. Durch Abspaltungen verschiedener Gruppen kam es in der psychoanalytischen Tradition zu sehr heterogenen Entwicklungen in Theoriebildung und Praxis. Diese wurden noch nicht ausreichend zusammengeführt, weshalb Konzeptionen über die menschliche Realität bislang unvollständig bleiben mussten. Der Autor skizziert Vorschläge zu gemeinsamer wissenschaftlicher Verständigung.

Das neunte Kapitel widmet sich Psyche aus einer Perspektive, die an Martin Heideggers Konzept Sein zum Tode anknüpft; es verweist auf Zeit und Zeitlichkeit als unvermeidliche Faktoren des Seins, aber auch als sinnstiftende Instanzen. Die Näherung dieser Thematik erfolgt über Motive aus William Faulkners Werk und die Bergsonsche Unterscheidung von „le temps und „la durée. Letztgenannte trägt zur Bildung von Identität durch gleichzeitige Bewahrung und Überwindung von Ereignissen bei und kann hilfreich sein, um die Problematik von Subjektivitätsbildung zu erhellen. Um das „Normale“ zu verstehen, muss ohnehin das „Unheimliche“ untersucht werden.

Erziehung und Sozialisation

Die Problematik von Erziehung und Sozialisation wird im zehnten Kapitel behandelt. Walter Böhmer präsentiert eine eindrucksvolle Reflektion des Einflusses von Erziehungsmethoden auf menschliche Lebensbedingungen, in der biographische Hindernisse aus destruktiven Erziehungsmethoden hervorgehen und immer wieder neue Hindernisse erzeugen können. Dazu kann auch selbst-destruktives Verhalten gehören. Doch auch hier gibt es eine gute Nachricht: Erziehungsmethoden sind veränderbar.

Im letzten Kapitel weist Janus schließlich ein neues wissenschaftliches Paradigma für zukünftige Psychotherapien aus, das in einer Zusammenführung von frühen prä- und postnatalen Erfahrungen für die menschliche Entwicklung auf multidimensionaler Grundlage besteht. Die Marginalisierung vorsprachlicher Erfahrung hat im Rahmen der abendländischen Sprachbezogenheit zu einer Limitierung des Einblicks in Psychosomatik und menschliche Interaktion geführt. In seiner Darstellung der Psychoevolution in Zusammenhang mit den Erkenntnissen aus psychoanalytischer Theorie und Säuglingsforschung zeigt er, wie die Unzulänglichkeiten mancher Theoriebildung zukünftig überwunden werden können. Die sogenannte infantile Amnesie besagt, dass wir keine Erinnerung an frühe Kindheitserfahrungen haben, zumindest keine verbalisierbare; schon denken wir, jene Zeit unseres Lebens sei bedeutungslos. Doch schon das Körpergedächtnis spricht Bände über unsere frühesten Prägungen, die Erleben und Wahrnehmung, und somit unser psychosomatische Verfasstheit, beeinflussen.

Der englischsprachige Band soll als Kompendium in Klinik und Kultur dienen; er lädt alle anthropologisch Interessierten ebenso zur Reflektion ein.

 

Goetz Egloff & Dragana Djordjevic (eds.). Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. Nova Science, New York, 2020, 354 S., 190 $

 

 

Mauer, Marsch und Mauerfall

Berlin, 21. und 22. August 1988
Die Berliner Mauer wurde gestürmt.

Ich war mit dem PKW von Hamburg aus durch die DDR nach Berlin unterwegs. Die Stimmung war düster, wie der regenverhangene Nachmittag an diesem Augusttag. Oder kam es mir nur so vor? Weil mir alles grau in grau erschien? Weil mich muffige Grenzer filzten wie einen ertappten Drogendealer: Spiegel unters Auto schoben, Sitze umklappten, den Kofferraum leerten und wieder beladen ließen. Als eine alte Bild-Zeitung, es handelte sich um Einwickelpapier, entdeckt wurde, kam es zu einem zwanzigminütigen Verhör … dann schließlich, drückte man doch einen Stempel in den Reisepass und ließ, nach Bezahlung der Einreisegebühren, passieren. Das zerknüllte Zeitungspapier wurde konfisziert. 

Vor West-Berlin stoppte mich die Vopo wegen zu schnellen Fahrens … und kassierte DM. Ich war mir keiner Schuld bewusst. In Charlottenburg wollte ich eine Schulfreundin besuchen. Sabine Seeland, die als Journalistin bei RIAS Berlin arbeitete. So ganz ohne verwandtschaftliche noch sonstige Beziehungen zum östlichen Teil Deutschland war ich gespannt, was Sabine mir an der Mauer über die Grenze zu berichten hätte. Ich gebe zu: Informationen, die längst überfällig waren! Ich übernachtete in einem gemütlichen Hotel am Kurfürstendamm. Genoss zuvor noch etwas Nachtleben im Bei Mo.

Bild von Armin Forster auf Pixabay

Pünktlich um 10 Uhr traf ich Sabine an der Holzplattform am Brandenburger Tor. Einst hatte die Westberliner Polizei die Aussichtstürme zur Beobachtung errichten lassen. Seit Jahren nun schon wurden sie von Touristen besucht, die auch mal einen Blick in den verschlossenen Teil der Stadt werfen wollten. Wir stiegen die Treppe empor und schauten über die Betonmauer. „Heute ist der 22. August,“ bemerkte Sabine, „genau vor 27 Jahren sprang eine Frau Ida Siekmann um 6.50 Uhr in den Tod. Sie war das erste Opfer der Berliner Mauer.“ „Und wie kam es dazu?“ fragte ich, der noch nie etwas von Frau Siekmann gehört hatte. Sabine: „Anderthalb Wochen zuvor hatte die DDR mit Zustimmung der Sowjetunion mit dem Bau begonnen. Die Berliner Grenzbefestigung war das letzte, offene Teilstück der 1378 Kilometer langen innerdeutschen Grenze. Die 58-jährige Ida Siekmann wohnte im dritten Stock eines Grenzhauses an der Bernauer Straße. Die alleinstehende Frau erkannte den Ernst der Situation als die Haustüre zum im Westen gelegenen Bürgersteig verbarrikadiert wurde. In aller Eile warf sie ein paar Habseligkeiten aus dem Fenster und sprang hinterher … schlug auf der Straße so schwer auf, dass sie auf der Fahrt ins Krankenhaus starb.“
„Schrecklich! Weiß man wie viele Menschen an der Mauer den Tod fanden?“ „Vom Bau bis jetzt sind an der DDR-Grenze rund 800 Menschen umgekommen. Allein an der Berliner Mauer sollen es 140 sein.“

Auf der Plattform drängten sich mittlerweile die Interessenten. Oder waren es nur Schaulustige? Es entstand Gedränge. Ich reckte den Hals: Sah einen breiten Grünstreifen, einen geharkten Sandanschnitt, zu Böcken aufgestellte Doppel-T-Träger. Schäferhunde kläfften, Wachsoldaten mit geschulterten Gewehren und weiter im Süden musste sich ein Wachturm befinden. 

„Unbegreiflich, wie sich ein Volk unterschiedlicher Gesellschaftssysteme so zu trennen vermag!“ Sabine meinte: „Die Schließung der Sektorengrenze sollte Flüchtlingsströme stoppen. Innerhalb von zwölf Jahren hatten fast drei Millionen Menschen Ostdeutschland verlassen.“ „Was der Eiserne Vorhang verhindern soll.“ „Bis auf Ausnahmen auch verhindert hat. Schau dir das nahezu perfekte System der Trennung an: Die Betonmauer ist vier Meter hoch. Entlang der Oberkante verläuft eine 50 Zentimeter dicke Betonröhre. Die Konstruktion wurde 1965 von Armeesportlern getestet. Keinem gelang die Überwindung. Der breite Kontrollstreifen wird stets sorgfältig geglättet, damit Fußspuren sofort erkennbar sind. Und die doppelreihigen Stahlböcke sind Panzersperren. Es gibt elf unterschiedliche Hinderniszonen. Dazu gehört beispielsweise ein ‚Teppich‘ aus 14 Zentimeter langen Eisenspießen. Im DDR-Jargon ‚Spargelbeet‘, im Westen ‚Stalinrasen‘ genannt.“  

Sabine wies nach Norden und fuhr fort: “Auf dem nächsten Korridor da drüben patrouillieren Soldaten zu Fuß oder im Jeep. An vielen Abschnitten wachen zusätzlich scharf abgerichtete Hunde. Dann wurden in unterschiedlichen Höhen Stolperdrähte gespannt, die bei Berührung Leuchtpatronen auslösen. Über allem wachen schießbereite Wachsoldaten mit Ferngläsern vor den Augen, oben auf den Beobachtungstürmen. – Kann ein Käfig hermetischer abgeriegelt werden?“ 

„Was weißt du über die Fluchttunnel?“ „Davon gibt’s einige. Doch nach und nach wurden sie alle entdeckt und geschlossen. Fast 80 000 Fluchtwillige nahm der Staat bereits bei der Planung oder auf dem Weg zur Flucht fest, was Verhöre, Folter, und um die drei Jahre Zuchthaus zur Folge hat.“ „Was meist du, hat die DDR Bestand?“ fragte ich. Sabine dachte einen Moment nach und antwortete: „Nur so lange Moskau seine schützende Hand über den Vasallenstaat hält.“

Ein letzter Blick über das absurde Stück Berlin, dann stiegen wir von der Plattform. Schweigend gingen wir die Straße des 17. Juni hinunter in Richtung Tiergarten. Mich bewegten die Fragen: Wie lange lassen sich Menschen einsperren, der Freiheit berauben, ein Volk wie  lange trennen? Kann es je eine Wiedervereinigung geben? Wenn ja, wie wird sie sich gestalten? Friedlich, blutig?

Magdeburg, Ende Oktober 1989

Nur etwas über ein Jahr später: Glasnost und Perestroika hingen in der Luft. Michail Gorbatschow ließ verlauten: „Ich glaube, die Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“. Der Volksmund hatte daraus: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ gemacht.  Ich war gerade mit besonderen Erlebnissen aus Magdeburg zurückgekommen. Hatte mit Kombinats-Generaldirektoren und Parteifunktionären gesprochen. Ahnte man Veränderungen? Vorboten einer Zeitenwende großen Ausmaßes? 

Schon an der Grenze erlebte ich DDR-Grenzer mit menschlich-freundlichen Zügen. Durchsuchungen gab es nicht. Nach dem Einreisestempel wurde „gute Weiterfahrt“ gewünscht. Leuchteten da am Horizont Vorboten eines Wandels?

Mit neugieriger Zurückhaltung hatte mich Dr. Ing. Tensfeldt, Direktor eines VEB Planungsbüros mit der Frage empfangen, wie könne man sich eine Zusammenarbeit vorstellen? Was gäbe es  zu beachten bei einer Ausrichtung hin zum Kapitalismus? Der Parteifunktionär, vielleicht war es auch ein Stasi-Offizier, hatte gerade mal den Raum verlassen.

Ich spürte das aufrichtige Interesse, sah aber auch die ungeheuren Hindernisse für eine Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen. Nach stundenlangen Diskussionen über die Unterschiede zwischen Plan- und Konkurrenzwirtschaft, die nun mal in der Marktwirtschaft des Westens herrscht und vom Sozialismus als unbarmherzige Härte empfunden wird, verabredete ich mich mit dem Hauptbuchhalter Josef Klein am späten Nachmittag im Magdeburger Dom zu einer Kundgebung. Ich spürte Kleins Drang zur Freiheit. Er fühlte sich wie auf einem sinkenden Schiff. Sprach frei über die hoffnungslose Wirtschaftslage der DDR. Die total überalterte Industrie, maroden Verhältnisse wohin man schaute. Klein war Parteimitglied mit besten Verbindungen zur politischen Führung. Kannte er womöglich das Schürer-Gutachten, das Egon Krenz unter strengster Geheimhaltung anfertigen ließ und am 30. Oktober 1989 dem Politbüro vorgelegt hatte? Darin wurde bereits auf die Überschuldung und der faktischen Zahlungsunfähigkeit des Staates hingewiesen.

Bild von Martin Wischeropp auf Pixabay

Im Dom herrschte drangvolle Enge. Immer mehr Menschen quollen ins Kirchenschiff. Alte, Junge, Frauen, Männer, Greise und Kinder. Mütter versuchten Babys in Kinderwagen hineinzuschieben. Am Altar hielt ein Pfarrer eine flammende Rede über die Fackeln der Freiheit, die es galt endlich zu entzünden, um sie als Banner vorweg zu tragen. Endlich sei die Stunde der Selbstbestimmung gekommen.

Rechts und links bauten sich Volkspolizisten auf, die die Massenansammlung kritisch beobachteten. Wieviel Stasiagenten in Zivil mochten sich unter die Menge gemischt haben? Mir wurde verdammt mulmig. Was war da im Entstehen? Wann und wie glitt der friedliche Protest ab in chaotischen Tumult mit Verletzten und Schlimmeres? Hauptbuchhalter Klein an meiner Seite blieb gelassen und meinte: „In Leipzig hatte es schon mehrere Montagsdemonstrationen und -märsche gegeben. Bisher verliefen alle friedlich.“

Draußen war es dunkel geworden. Wie ein Weckruf verhallten die Worte des Geistlichen. Auf irgendeine Veranlassung hin wandte sich die Menge um, strebte aus dem Dom und bildete eine lange, dichte Menschenschlange, die sich gemächlichen Schrittes in die Danzstraße begab, dann in die Otto-von-Guericke-Straße schwenkte. Immer eskortiert von bewaffneten Vopos. Nach und nach wurden Kerzen entzündet, die den Friedensmarsch in ein flimmerndes Lichtermeer tauchte. 

Zu meiner Linken schritt Peter Neufert, Bauhandwerker einer Brigade, und erzählte, dass er als Siebenjähriger erleben musste, wie sein Vater morgens um fünf Uhr von acht Mann der Staatssicherheit aus dem Bett gerissen und verhaftet wurde.
„Vater war Kulturredakteur. Schrieb Kritiken über Theater- und Musikereignisse in Magdeburg und Umgebung. Auf der Suche nach Beweismaterial wurde unsere Zwei-Zimmer-Wohnung total auf den Kopf gestellt. Gefunden wurde nichts. Vier Monate lang wussten Mutter und ich nicht, wo sich Vater befand. Schließlich kam es zum Prozess. Vater wurde zu drei Jahren und neun Monaten Zuchthaus verurteilt. In der Untersuchungshaft war er zuvor misshandelt und gefoltert worden. Mutter bekam schließlich heraus: Ein Kollege der Volksstimme hatte unter Eid geschworen, Vater hätte mit seiner Familie Republikflucht geplant, außerdem parteifeindliche Flugblätter verteilt. Dreiste Lügen! In Wirklichkeit neidete der Journalist Vaters Position bei der Zeitung. Entlassen wurde Vater als gebrochener Mann, der nie mehr Fuß fasste. Dass mitanzusehen zu müssen, war besonders schlimm für mich.“

Im Umzug entstand auf einmal Unruhe. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, die Initiatoren des Marsches strebten zum Verlagshaus der Volksstimme und beabsichtigten den Chefredakteur aus dem Fenster zu werfen. Augenblicklich wurde die Polizeieskorte massiver und von Mannschaftswagen verstärkt. Tatsächlich versammelte sich der Zug eine knappe Stunde später vor einem hohen Gebäude, das von unserer Vorhut gestürmt wurde. Aus einem Fenster des dritten Stockwerks flog nicht der Chefredakteur, sondern Aktenbündel. Der Zeitungsmann hatte rechtzeitig Feierabend gemacht.

Unter Zurufen und Klatschen wurden noch ein paar Gegenstände herabgeworfen … es grenzte an ein Wunder, dass die Polizei nicht eingeschritten war. Wie durch eine geheime Absprache löste sich die Versammlung allmählich auf. Sonderbar zufrieden zogen die Bürger Magdeburgs friedlich ihrer Wege.

Berlin, 9. November 1989

Für sehr viele Menschen, wie auch für mich war dieser Donnerstag ein ganz außergewöhnlicher Tag. Der Firmenvorstand hatte die Geschäftsführer der Tochtergesellschaften zu einer mehrtägigen Konferenz ins Hotel Palace in West-Berlin geladen. Zwischen Sitzungsende und dem gemeinsamen Abendessen wurde eine längere Pause eingelegt. Um etwas frische Luft zu schnappen, spazierte ich in Richtung Reichstag. Schon nach den ersten Minuten bot sich mir eine merkwürdige Stimmung.

Ich erlebte Berlin irgendwie anders als sonst. Sehr viel mehr Menschen waren unterwegs. Und es war, als befand ich mich in einem Sog, der in Richtung Osten zog. Alle Fenster waren geöffnet worden, Menschen winkten, manche jubelten. Ich vernahm Lautsprecherdurchsagen, verstand jedoch nichts. Dennoch spürte ich, da musste etwas ganz Unglaubliches geschehen sein. Fahrbahnen, Bürgersteige quollen über von tanzenden Menschenmassen, die mir jetzt auch entgegenströmten. Dann war ich an der Mauer … und sogar auf der Mauer! Wie ich da hinaufgekommen bin – ich weiß es nicht. Wohl über die Rücken einer Personentraube. Oben fielen sich wildfremde Menschen in die Arme klatschten, sangen und jubilierten. Die Euphorie war unbeschreiblich, grenzenlos. Der Mauerfall, ein Großereignis, unfassbar! Politbüro-Sprecher Günther Schabowski hatte um 18.53 Uhr in einer TV-Ansprache gesagt: „ … Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“. Mit diesen Worten zur neuen DDR-Reiseregelung hatte er unfreiwillig das Ende der deutschen Teilung verkündet.

Irgendwann in den Morgenstunden kehrte ich, immer noch aufgewühlt, in mein Hotel zurück. Die Konferenz wurde abgebrochen und vertagt. Wer wollte, konnte noch einen Tag auf Firmenkosten in Berlin weilen und sich um DDR-Bürger kümmern, die inzwischen scharenweise in den Westen gekommen waren. Mit mehreren Kollegen blieb ich. Wir freuten uns mit den Menschen, teilten ihren Enthusiasmus, luden sie ein ins Kranzler, ins KaDeWe und sonst wohin. Jubel, Freudentaumel, Begeisterung hatten mich nicht nur angesteckt, sondern wundersam beseelt und bleiben im Herzen als ewig schöne Erinnerung.

Bild von roegger auf Pixabay

Wie konnte ich ahnen, dass mich ein Jahr später die Treuhand mit der Frage konfrontierte, ob ich mir zutraue ehemalige Kombinate zu sanieren. Wer kann eine solche Herausforderung ablehnen? So geschah es, dass ich fast drei Jahre in Magdeburg, Halle und Ost-Berlin Firmen auf den rauen Konkurrenzkampf vorbereitete. Eine ungeheuer tiefe Erfahrung, geprägt von Euphorie, Schmerz, Glück, Enttäuschung und Dankbarkeit, die ich nicht missen möchte.