International Poetry Reading Part 2

SPRING’S BLUE RIBBON, edited by poet Gino Leineweber, is the fourth international poetry anthology published by Verlag Expeditionen, Germany. The publishing house presents an extraordinary project in which worldwide poets have participated. The poetry collection contains poems from 61 poets from 20 countries on five continents. With its different cultural and personal imprints, the range of poetry is unique and provides a profound insight into contemporary, lyrical work. Each poem is printed in mother-tongue and English and is likewise performed in the reading series. Anyone who has heard such multilingual readings knows how special it is to listen to a poem recited in a foreign language, even if you don’t understand it; the sound and rhythm of the language is always an experience.

The recitals of the poets will be framed by the moderation of the editor and poet Gino Leineweber and music videos of the musicians Ulrike Gaate and Thomas Styhn from Germany. The readings will be broadcast via Facebook and recorded to be made available later on YouTube and on the publisher’s website.

The first out of five readings from the international poetry anthology SPRING’S BLUE RIBBON will take place on

March 26, 2022, 12 pm EDT, 5 pm CET 

The whole Program you will find here: http://www.weblesung.de/

Every reading will be broadcast on FB-page “Cultivating Voices.”

If you want to join on the Zoom platform, you need to register in advance here:

https://us02web.zoom.us/meeting/register/tZIsfu2pqDkrE9av_ZG-PNShbmPuqsmqCZXt

After registration, you will get an email with an access link.

Reading Poets on March 26 are:

Daniel Calabrese – Argentina,
Gülname Eslek – Turkey,
Maren Schoenfeld – Germany,
Raquel Martínez Gómez López – Spain,
Susanna Piontek – USA/Germany,
Zorin Diaconescu – Romania,
Dorel Cosma – Romania,
Hilal Karahan – Turkey,
Utz Rachowski – Germany

Moderation: Gino Leineweber, Germany

Music Videos: Ulrike Gaate & Thomas Styhn Germany

Internet Technic: Don Krieger, USA

Three members of the DAP, Ulrike Gaate, Maren Schönfeld and Gino Leineweber, are part of these special event.

Herz schlägt Krieg: Eine Familiengeschichte aus erster Hand

Hilde Niggetiet Foto: privat

Im ersten Teil seiner zweibändigen Familiensaga führt Jörg Krämer seine Leser in die Welt des Bergbaus im Ruhrgebiet im Jahr 1865. Der Bergmann Johannes Biel und seine Frau Wilhelmine leben in sehr einfachen Verhältnissen und mit harter Arbeit. Acht Kinder ziehen sie liebevoll groß und freuen sich an den kleinen Dingen.

Jörg Krämer erzählt die Geschichte handlungsorientiert und direkt, man ist sofort in das Geschehen eingebunden. Faszinierend ist der Einblick in eine untergegangene Welt ohne Handy, Fernsehen und Multimedia, dafür mit Arbeit bis über die eigenen körperlichen und seelischen Grenzen hinweg. Da sitzt die Frau zu Hause und bangt, weil der Bergmann nicht zur gewohnten Zeit erscheint. Heute würde man eben anrufen. Kinder werden nicht zur Schule gefahren, sondern müssen weite Wege zu Fuß zurücklegen. Jüngere Geschwister tragen die Kleidung der älteren auf.

Foto: Pavlofox/Pixabay

Die Geschichte spielt in der Zeitspanne von 1865 bis 2001, auf knapp über 600 Buchseiten in zwei Bänden („Im Schatten von Schlägel und Eisen“ und „Herz schlägt Krieg“, beide im net-Verlag erschienen). Sie konzentriert sich in der Erzählweise vor allem auf den chronologischen Ablauf und die Personen. Bedingt durch die große Familie kommen viele verschiedene Personen vor, was teilweise etwas verwirrend ist. Im zweiten Teil ist am Ende ein Personenverzeichnis eingefügt, das einige Orientierung bietet.

Eigenhändige Aufzeichnungen der Großmutter

Hat Jörg Krämer den ersten Teil in Autorenperspektive als Roman geschrieben, so tritt der Autor im zweiten Teil ganz hinter der Erzählstimme Hilde Niggetiets – seiner Großmutter – zurück. Die Erzählung wechselt in die Ich-Perspektive und einen Tagebuchstil. Das bringt einige Sprünge im Erzählfluss mit sich, die nicht literarisch bearbeitet wurden; womöglich, um den authentischen Bericht der Protagonistin nicht zu verfälschen. Nun hat es durchaus etwas für sich, einen Menschen des Jahrgangs 1910 in seiner eigenen Sprache erzählen zu lassen. Die Ich-Form berührt direkt, vor allem in den schweren Phasen der Armut und des Krieges, und die aus anderen Zeitzeugenberichten bekannten Motive wie Kinderlandverschickung und Hamstertouren werden durch die eigenen Erlebnisse sehr lebendig. Durch Hilde Niggetiets eher sachlich-zurückhaltenden Stil sind einige Szenen besonders verstärkt, wenn sie beispielsweise berichtet, wie ihrer Tochter Edith nach der Zangengeburt des ersten Kindes die Beine zusammengebunden wurden, damit die Nähte nicht rissen.

Mit Blick auf das Positive
Foto: Congerdesign/Pixabay

Berührend ist auch, wie die Erzählerin sich bemüht, möglichst viel Positives zu berichten. Immer wieder kommentiert sie ihre Ausführungen selbst in dem Sinne, dass sie dem Schweren nicht zu viel Raum geben möchte. Eine Haltung, die mich an meine Großeltern (Jahrgang 1920) erinnert. Und wie konnte diese Generation auch anders überleben als durch Verdrängung? Meine Großmutter sagte in schweren Zeiten immer, man solle sich nur Schönes ansehen. Und so ist auch in der Familie des Autors Jörg Krämer der Blick eher auf das Schöne als auf das Schlimme gerichtet, und das bei Schicksalsschlägen, die mir beim Lesen manchmal den Atem verschlagen haben. Irgendwie muss es weitergehen, so ist das Motto, und es geht auch weiter, irgendwie. Männer schuften in der Zeche und leisten sich vielleicht ein bescheidenes Hobby wie die Taubenzucht, Frauen schuften zu Hause, zu Anfang von Krämers Geschichte ohne Waschmaschine und mit Wasser auf dem Kohleherd. In jeder freien Minuten scheinen die Frauen der Familie feinste Handarbeiten herzustellen, denn Schönheit war ihnen durchaus wichtig, und da sie nichts kaufen konnten, stickten, häkelten, nähten und strickten sie eben alles selbst und freuten sich daran. Der Einblick in diese Welt, auch in die Fertigkeiten der Menschen, in das Bemühen um Frieden und liebevolles Miteinander, ist sehr anrührend. Manches Wort, wie z. B. „Gabelarbeit“ (eine Häkeltechnik), musste ich nachschlagen. Nicht nur eine untergegangene Welt, auch untergegangene Worte finden sich in Jörg Krämers Familiensaga.

Gleichwohl birgt die tagebuchartige Erzählweise die Gefahr, dass man als Leser mit einigen Sprüngen zwischen Personen nicht mehr nachkommt. Auch wenn es noch schwieriger gewesen wäre, als es vermutlich ohnehin schon war, so einen langen Zeitraum in zwei Büchern unterzubringen, habe ich teilweise im ersten Teil ein Verweilen bei einzelnen Personen vermisst. Im zweiten Teil wäre es vielleicht einen Versuch wert gewesen, behutsam in den Tagebuchstil einzugreifen und ihn mit romanhaften Verbindungen zu ergänzen; allerdings ist es verständlich, wenn der Autor dies aus Gründen der Authentizität unterlassen hat.

Spannung aus vergangenen Zeiten
Foto: Uki_71/Pixabay

Wie auch immer: Eine spannend erzählte Geschichte ist es allemal, man wird als Leser etwas daraus mitnehmen, sei es die eine oder andere Information, wie man „damals“ und speziell in der Bergbau-Welt – die es wohl bald gar nicht mehr geben wird – gelebt hat; sei es ein Einblick in das Seelenleben einer Generation, die sich mit existenziellen Fragen tagtäglich buchstäblich abarbeiten musste und das Wohl der Familie über alles stellte, was mir beim Betrachten unserer heutigen Gesellschaft durchaus den einen oder anderen Denkimpuls gibt. Jörg Krämer hat ein Zeitzeugendokument geschaffen und dabei seiner Großmutter eine Stimme verliehen. Sie beschreibt an einer Stelle, dass es ihm als Oberschüler an Ehrgeiz gemangelt hätte (S. 239, „Herz schlägt Krieg“). Das muss sich später allerdings gründlich geändert haben, denn ohne Ehrgeiz ist so eine Recherche und Romanarbeit kaum zu bewerkstelligen.

 

Über den Autor:
Jörg Krämer Foto: privat

Jörg Krämer, Autor und Taekwondoin, wurde 1966 in Witten geboren, wo er gemeinsam mit seiner Familie lebt. Die Liebe zum Schreiben entdeckte er durch seinen Hund Odin, über dessen Rasse Germanischer Bärenhund er bereits ein Buch schrieb. Oft spielt in seinen Geschichten ein Germanischer Bärenhund mit.

Jörg Krämers Seite in unserem Online-Magazin

 

Die Familiensaga entstand in der Zeit von 2013 bis 2017 und basiert auf handschriftlichen Aufzeichnungen der Hauptfigur Hilde Niggetiet sowie deren Aufnahmen auf Kassette. Dabei war es Jörg Krämer wichtig, den authentischen Originaltext für die Nachwelt zu erhalten.

 

Kuba – Ein Reiseführer auf den Spuren Ernest Hemingways

Mutti mit Cohiba

„Kuba, Hemingway, eine Cohiba + ich“ von Wolf Cropp liest sich wie ein Vademecum durch die wechselvolle Geschichte der karibischen Zuckerinsel, angereichert mit akribisch recherchierten Episoden aus der Vita des amerikanischen Schriftstellers Ernest Hemingway. Hier ist dem Autor der perfekte Spagat zwischen Reiseführer und Biografie gelungen.

 

Cropp beginnt seine weit ausgreifende Geschichte in den Keys, dem äußersten Zipfel der Vereinigten Staaten. Zunächst in Key West gestrandet, wie er im Eingangskapitel schreibt, schaut er, ein Lager aus der Flasche trinkend, auf den Golf von Mexiko und die mit vielen kleinen Eilanden gesprenkelte Straße von Florida. Hier ließ sich Hemingway auf Empfehlung seines Schriftsteller-Freundes John Dos Passos 1928 nieder. Das Ambiente seines aus Muschelkalk im amerikanischen Kolonialstil erbauten Wohnhauses – heute Museum – hat ihn offenbar zu Höchstleistungen inspiriert. Denn hier schrieb er „Wem die Stunde schlägt“ und „Die grünen Hügel von Afrika“, die weltweit zu seinen berühmtesten Werken wurden. Zudem frönte er in Key West der Hochseefischerei, seinem liebsten Hobby neben der Jagd. Aus Gesprächen, die Cropp mit Aficionados Hemingways vor Ort führte, ist unschwer zu entnehmen, dass er nicht zu „Papas“ Bewunderern zählt. Seine Sprache sei primitiv, die Plots nicht selten langweilig, findet Cropp. Eine Einschätzung, die die Rezensentin seines Buches über Kuba und Hemingway weitgehend teilt. Hemingways ausschweifendes Leben – man denke nur an seine zahllosen Liebschaften – war hingegen hoch interessant und füllte jahrelang die Seiten einschlägiger Publikationen.

An der Fassade Camilo Cienfuegos

Endlich landet Cropp auf Kuba. Er führt den Leser durch das laute quirlige Havanna, dessen bröckelnde Fassaden entfernt an die einstige Pracht der reichsten spanischen Kolonie erinnern. Das Straßenbild wird auch heute noch von den bonbonfarbenen amerikanischen Straßenkreuzern dominiert, die die Oberschicht des korrupten Bastista-Regimes zurückließ, bevor Fidel Castro mit seinen Genossen als „El Máximo Lider“ das Ruder übernahm. Von der anfänglichen Euphorie ist nichts geblieben. Mangelwirtschaft, wohin man schaut, leere Regale in den Läden. Und – Ironie der Geschichte – selbst der Zucker wird der Bevölkerung der Zuckerinsel in fast homöopathischen Dosen zugeteilt. Umso erstaunlicher berührt die Fröhlichkeit der Kubaner, deren Leidensfähigkeit unendlich zu sein scheint.

Die tropische Pracht Kubas fasziniert

Während seiner Erkundungstour kreuz und quer über die Insel gerät der Autor in manche prekäre Lage. Während eine „patrulla de policiá“ Cropps Papiere peinlich genau in Augenschein nimmt, versuchen ein paar Insulaner – allesamt arme Teufel – ihn mit einer angeblichen Hilfeleistung beim Reifenwechsel am gemieteten Renault über den Tisch zu ziehen. 500 US-Dollar her oder… Da kann der Autor nur das Hasenpanier ergreifen und weiterfahren in Richtung Santa Clara, dem Wallfahrtsort der Verehrer des Helden aller Linken dieser Welt, Che Guevara, dem man in diesem armseligen Ort ein monumentales Denkmal errichtet hat. Obwohl an den Händen dieses Revoluzzers – seines Zeichens Humanmediziner – das Blut vieler unschuldiger Menschen klebt, wird er auch fünfzig Jahre nach seinem gewaltsamen Tod verehrt wie ein Heiliger. Das Che gewidmete Lied „Hasta siempre comandante“ – auf immer um ewig, Kommandant – hat sich zu einer Art Nationalhymne entwickelt. Der Geist Guevaras lebt weiter auf der Insel und manifestiert sich in diesem Diktum: “Man trägt die Revolution nicht auf den Lippen, um von ihr zu reden, sondern im Herzen, um mit ihr zu sterben.“ Doch die meisten Kubaner haben die Nase gestrichen voll von derart inhaltlosen Parolen und Castros ständig wiederholtem Aufruf: „Revolución o muerte.“ Die Menschen wollen nicht für eine Ideologie sterben, sondern ein besseres Leben in einem Land, das die Natur so reich beschenkt hat. Liebevoll beschreibt Cropp die tropische Pracht Kubas in all ihren Facetten und dokumentiert in jeder Zeile, wie eingehend er sich mit der Fauna und Flora der Insel beschäftigt hat.

Über Santa Ifigenia geht es heute zum berüchtigten Guantánamo, einem trostlosen Ort mit real existierenden sozialistischen Plattenbauten. „1903 besetzte die amerikanische Marine die südöstlich gelegene Bucht, seitdem gibt es Streit,“ resümiert Cropp lakonisch. Wohin der letztlich führte, wissen wir aus Beschreibungen von Folterungen in diesem von den Amerikanern betriebenen Straflager, das trotz aller Beteuerungen bis heute nicht aufgelöst ist und nur noch alte und kranke Insassen beherbergt. Verlassen wir dieses Schandmal fehlgeleiteter Politik und wenden uns der fast unberührten Natur zu, die der Autor nach seiner Exkursion in die Niederungen menschlicher Unbelehrbarkeit aufsucht. Seine Naturbetrachtungen gehören zum Lesenswertesten des Buches. Wer hatte je zuvor von dem Monte-Iberia-Fröschchen gehört, das mit seiner Größe von 10 Millimetern auf einer Fingerkuppe Platz hat? Ob Riesenspitzmaus oder seltene Vogelarten wie der Zuzun, ein kolibriartiges Vögelchen, das gerade einmal 1,8 Gramm auf die Waage bringt, Cropp hat diese kleinen Wunder der Wildnis im Visier und lässt uns an seiner Begeisterung teilhaben. Während seiner Wanderung unter 40 Meter hohen Königspalmen, Drachen- und Trompetenbäumen droht ihm keine Gefahr. Denn Giftschlangen und Vogelspinnen sind auf Kuba unbekannt.

Auf zur Schweinebucht! Wer denkt da nicht an die gescheiterte Invasion der Amerikaner im Jahre 1962. Ein Desaster für den seinerzeit amtierenden Präsidenten John F. Kennedy. Diese Episode darf in keinem Buch über Kuba fehlen. Cropp hakt sie kurz ab und begibt sich geradeswegs ans Wasser. Denn an diesem Tag ist eine Tauch- und Beobachtungstour angesagt, die zur Laguna de las Salinas führt. Hier gilt es an Deck eines Bootes Delfine und Haie zu beobachten. Die kabbelige See tut diesem Vergnügen keinen Abbruch.

Unter Krokodilen auf Sumpfsafari

Eine Sumpfsafari in einem unwegsamen Gelände, in dem sich Krokodile von stattlicher Größe tummeln, ist ein Erlebnis besonderer Art. Hier ist äußerste Vorsicht geboten, denn die Echsen sind erstaunlich gewandt und schnell. Der Legende nach haben die Taino, Kubas Ureinwohner, in den Sümpfen ihr Gold vergraben, um es vor den gierigen Konquistadoren in Sicherheit zu bringen. Ob der sagenhafte Schatz immer noch tief im Schilf unter den langen Wurzeln ewig blühender Seerosen schlummert? Die Begegnung mit den „Kroks“ verläuft ohne Zwischenfall. Und so verabschiedet sich dieser ereignisreiche Tag „mit einem grandiosen Sonnenuntergang. bei dem der Feuerball wie eine flammende Orange im Röhricht versinkt, Wasser und Himmel in mystisches Lila taucht.“ Poetischer kann man „eines langen Tages Reise in die Nacht“ nicht beschreiben.

Hemingways Wohnzimmer in Finca

Obwohl der Autor bekanntermaßen kein Fan Hemingways ist, kommt er am Ende seines Kuba-Aufenthaltes wiederum an Papa nicht vorbei. Die aufregende Fangfahrt im blauen Strom erinnert an das Opus Magnum Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ und trägt demgemäß folgendes Zitat des Schriftstellers im Titel: „Der letzte Ort der Freiheit, den es gibt, ist das Meer.“ Cropp als ein mit den Wassern aller Meere gewaschener Fahrensmann ist kein ambitionierter Fischer, aber kann der Versuchung nicht widerstehen, auch einmal einen großen Fisch zu fangen. Bald hat er einen kapitalen Thunfisch am Haken. Nach einem langen Kampf mit diesem Meeresbewohner ist er fix und fertig und fragt sich nach dem Sinn der Übung. Was hat der Fisch ihm getan? Hat er nicht Besseres verdient als den Tod?

Versunken in voluminösen Kunststoffledersitzen eines Cadillac

Szenenwechsel. Dort, wo das Abenteuer Kuba begann, findet es auch sein Ende – in Havanna. „Gerade versinke ich in den voluminösen Kunststoffledersitzen eines Cadillac mit steilen Heckflossen. Eingequetscht zwischen einer Hausfrau mit vollen Tüten und einem Liebespaar. Der Dinosaurier ist mindestens 70 Jahre alt und nennt sich Taxi Particular.“ Wer schon einmal auf Kuba mit einem solchen Ungetüm auf den engen Straßen unterwegs war, weiß, wovon der Autor spricht. Das ist Lokalkolorit pur! Noch ein paar Tage auf der Insel und Cropp muss die Heimreise antreten. Ein Abschied, der wehmütig stimmt. Salud y adiós.

Mit „Kuba, Hemingway, eine Cohiba + ich“ hat Wolf Cropp wieder ein exzellent geschriebenes Buch vorgelegt, das jedem empfohlen wird, der Kuba besuchen oder aus der Ferne kennenlernen möchte. Bemerkenswert sind nicht nur die Beschreibungen von Land, Leuten und der einzigartigen Natur der Karibikinsel, sondern auch die geschichtlichen und ethnischen Bezüge, die ein paradiesisches Fleckchen Erde prägen, auf das vor nunmehr über fünfhundert Jahren ein Europäer zum ersten Mal seinen Fuß setzte. Mit den bekannten Folgen.

„Kuba, Hemingway, eine Cohiba + ich“ von Wolf Cropp, erschienen im Verlag Expeditionen, 304 Seiten, ISBN 978-3-947911-55-4, kostet 22 Euro

Fotos dieses Beitrags: Wolf-Ulrich Cropp

Von Meeren und Wüsten. Die HAV tagte in den Bethanienhöfen

Gemälde von Angelika Kahl

Sie kamen im Doppelpack: Zwei Fahrensleute im besten Mannesalter, de wat to vertellen hebt. Wolf Cropp eröffnete die Lesung im wohl klingenden Bariton mit dem Shanty „Ick heff mol en hamborger Veermaster sehn, to my hoodah. to my hoodah, de Masten so scheef as den Schipper sien Been…“

Ein passender Einstieg in einen Törn mit der Viermastbark „Peking“, die der agile Autor im September letzten Jahres unternahm, als er die Verholung der aufwendig restaurierten Bark von Glücksburg nach Hamburg begleitete. Wolf ist Mitglied der „Freunde der Viermasterbark Peking e.V.“ und Experte bezüglich der Entstehungs- und Erfolgsgeschichte dieses ehrwürdigen Windjammers. Die „Peking“ ist einer der vier noch erhaltenen legendären Flying P-Liner der Hamburger Reederei Laeisz, die am 25. Februar 1911 zum ersten Mal auslief. Inzwischen ist das prachtvolle Segelschiff in die Jahre gekommen und reif fürs Museum. Sein künftiger Liegeplatz wird vermutlich bis zur Fertigstellung des Deutschen Hafenmuseums der Kleine Grasbrook sein. Da klingelt doch etwas. Wurde nicht im Jahre des Herrn 1401 direkt nebenan der berühmt-berüchtigte Seeräuber Klaus Störtebeker hingerichtet, den romantische Seelen zum Robin Hood der Meere verklärten?

Wolf-Ulrich Cropp

Doch zurück zur “Peking“, über deren abenteuerliche Reisen auf den Weltmeeren Wolf Cropp so anschaulich berichtet, dass man meint, dabei gewesen zu sein. „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er drei Mal um Kap Hoorn“, zitiert der Autor einen alten Seemannsspruch und schlägt mit seinen abenteuerlichen Erzählungen über Cap Horniers und deren gefährliche Unternehmungen das Publikum in seinen Bann.

Exkursion in die Sahara

Szenenwechsel. Nahtlos tauchen wir ein in geheimnisvolle Wüstenlandschaften, in die selten ein Europäer den Fuß setzt. In einer der fünfzehn Kurzgeschichten in „Jenseits der Westwelt“ beschreibt Cropp seine Erfahrungen während einer Exkursion in die Sahara. Nach einem Besuch bei den Tuareg findet er sich plötzlich mutterseelenallein in der Wüste wieder. Denn während er die Gegend erkundete, hatte der Stamm seine Zelte abgebrochen und sich auf den Weg zum nächsten Rastplatz gemacht. Rund um den Fremdling nur Sanddünen und eine atemlose Stille, wie er sie noch nie erlebt hatte. Was bei den meisten Panikanfälle ausgelöst hätte, führt Cropp zu Frieden und tiefer innerer Einsicht. Eine Erzählung, die tief bewegt und zum Nachdenken anregt.

Das Meer und Helgoland
Reimer Boy Eilers

Reimer Boy Eilers ist aus ähnlichem Holz geschnitzt wie Wolf Cropp. Auch er ist ein weit gereister Mann, der das Meer über alles liebt. Besonders die Nordsee. So lautet auch der schmale Band „Mehr Nordsee“, aus dem der Autor ein Gedicht zum Besten gab, bevor er zu seinem 570 Seiten starken Opus Magnum „Das Helgoland. der Höllensturz: Oder wie ein Esquimeaux das Glück auf der Roten Klippe findet“ überging. Hinter diesem etwas sperrigen Titel verbirgt sich ein äußerst kniffliger Kriminalfall, der sich Anfang des 16. Jahrhunderts auf Helgoland abspielte oder sich abgespielt haben soll. Ein Kapitän aus Amsterdam, der Station auf dem Roten Felsen macht, stürzt die Treppe zum Oberland hinunter. Er stirbt – horribile dictu – ohne die Sakramente der Heiligen Kirche empfangen zu haben, und wird von den Insulanern auf dem Friedhof der Wasserleichen und Namenlosen hoch oben in den Dünen verscharrt. Ist der Mann durch einen Unfall zu Tode gekommen oder war es Mord? Das ist die Frage, die den Autor bewegt. Die Ermittlungen werden von einem Mann namens Pay Edel Edlefsen und seinem Freund und Jagdgefährten Equimeaux Quivitoq, genannt Menschenkind, geführt. Und das gegen den Willen des Fischerhauptmanns, Pays Vater Boje Edlef. Hat der Hauptmann etwas zu verbergen? Bevor der Fall geklärt ist, wartet die Nordsee mit einer Reihe höllenartiger Stürme und anderer Unbill auf.

Der verscherbelte Kalkfelsen

Autor Eilers las einem andächtig lauschenden Publikum mehrere Kapitel seines Thrillers vor und erklärte nebenbei allerhand Wissenswertes über das rote Kliff, Deutschlands einzige Hochseeinsel. Wer wusste zum Beispiel, dass Helgoland einst neben der Langen Anna noch ein weiteres Wahrzeichen hatte? Der schneeweiße Kalkfelsen, von dem die Rede ist, existiert seit langem nicht mehr. Er wurde vom Landesherrn gegen klingende Münze verscherbelt, ohne dass er die Insulaner zuvor um ihre Zustimmung gebeten hatte. Profit stand eben seinerzeit schon an erster Stelle. Was interessierte schon die vox populi? Auch über die strengen Sitten und Gebräuche von anno dunnemals auf der Insel weiß der Autor anschaulich zu berichten. Ein durch und durch ebenso lesenswertes wie spannendes Buch. Eine ausführliche Besprechung von „Das Helgoland, der Höllensturz. Oder: Wie ein Esquimeaux das Glück auf der Roten Klippe findet“ wird in unserem DAP Online-Magazin erscheinen, sobald die Rezensentin den dicken Wälzer von weit über fünfhundert Seiten vollständig gelesen hat.

Vom Cap Horn zum Cap Hornisse

Die Lesung fand in einer sehr entspannten Atmosphäre statt. Frei von Genderei und „Gedöns.“ Ohne Zweifel wird es inzwischen auch weibliche „Cap Horniers“ geben, die die gefährliche Umrundung des Kaps mit Bravour meistern. Aber wie sollen wir die im Zeitalter des nahezu militanten Feminismus nennen? Ich habe da einen Vorschlag zur Güte: Wie wäre es mit „Cap Hornisse?“ Klingt gut und hat etwas unverkennbar Martialisches.

Wem eine bessere Lösung für dieses weltbewegende Problem einfällt, möge sich melden. Ach ja, und Esquimeaux oder Eskimo geht natürlich gar nicht, lieber Reimer Boy Eilers. Das soll ja Fleischfresser bedeuten und ist daher in Zeiten von Veggitum und Veganismus total verpönt. Immer dran denken: Heute ist Inuit angesagt. Man möge es den Helgoländern verzeihen, dass sie diese Sprachregelung im 16. Jahrhundert noch nicht kannten!

Sabine Witt

Die Zuhörer applaudierten den beiden Autoren und freuten sich über diesen gelungenen Abend in den Bethanien-Höfen. Ein herzliches Dankeschön geht an Sabine Witt, die Vorsitzende der Hamburger Autorenvereinigung, die die Lesung gewohnt charmant moderierte.

 

 

 

Wolf-Ulrich Cropp: https://die-auswaertige-presse.de/mitglieder-1/cropp-wolf-ulrich-dr/

Reimer Boy Eilers: https://die-auswaertige-presse.de/mitglieder-1/eilers-dr-reimer-boy/

Sabine Witt: https://die-auswaertige-presse.de/mitglieder-1/witt-sabine/

Die Schiffbrüchigen von Tumbatu, ein Langgedicht

Das Buch von Reimer Boy Eilers: eigenwillig, ungewöhnlich, auf jeden Fall interessant. Ausgerechnet im Ramadan segelt der Held von Sansibars Nordwestküste aus zur sechs Kilometer vorgelagerten Insel Tumbatu. Tumbatu ist ein von Saumriffen umgebenes Eiland, verwunschen, dünn besiedelt, geheimnisvoll. Kein Wunder, dass dort, Erzählungen nach, irgendwo am Ufer ein heiliger Baum wachsen soll, vor dem einst eine Dhau, beladen mit Sklaven, wahrscheinlich aus dem Kongo, havarierte. Die Überfahrt mit einer einheimischen Crew und einem mysteriösen Geistheiler an Bord, ist zwar nur von kurzer Dauer, dennoch strapaziös. Der Held, ein weißer Tourist, leidet an diesem mörderisch heißen Tag an Wahnvorstellungen infolge quälenden Durstes. Wie Trugbilder erscheinen ihm Szenen von Sklaven, die auf eine Dhau gepfercht, eigentlich auf dem größten Sklavenmarkt Afrikas verkauft werden sollen. Das Riff macht sie zu Schiffbrüchigen, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen. Der Sklavenmarkt befindet sich auf Sansibar. Dort regiert der Sultan von Oman und Sansibar, ein unermesslich reicher Araber, der durch Sklaven, Sklavenhandel und Gewürznelken seinen Reichtum erwarb. Lieferant der Menschenfracht ist Tippu Tip, ein mächtiger Sklaven- und Elfenbeinhändler. Selbst mit dunkler Hautfarbe geboren, signalisiert er Vertrauen unter den Einheimischen Zentralafrikas. Lächelnd wickelt er seine Mitmenschen ein. Tritt der wahre, der grausame Händler hinter seiner Maske hervor, ist es zu spät. Er lässt Menschen aus dem Kongo jagen, treibt sie an die Küste, wo sie auf Schiffe verfrachtet, über den Sansibar-Kanal nach Stone Town auf den Sklavenmarkt geschleppt und verkauft werden. Sklavenschiffe kreuzten in jener Zeit überall auf den Weltmeeren. Geortet wurden sie an ihren Gestanksfahnen, die sie meilenweit hinter sich herzogen. Was es nun mit der Sklaven-Dhau, die da am Riff vor Tumbatu, in der Nähe des heiligen Baums zerschellte, auf sich hat, soll nicht verraten werden. Nur so viel: Der Autor führt uns auf eindringliche Weise die Schrecken der Sklaverei vor Augen. Nicht in Form aufrüttelnder Prosa, nein, mit einem epischen Gedicht, durch das man sich von wachsender Neugierde und Anteilnahme getrieben, durcharbeitet.

Reimer Boy Eilers: Die Schiffbrüchigen von Tumbatu, Kulturmaschinen Verlag 2020

Odyssee in Südostasien. Wolf-Ulrich Cropp auf Spurensuche

Buchcover (Ausschnitt)

Was tun in dieser bleiernen Zeit? Theater- und Restaurantbesuche nur mit Impfzertifikat oder einem 48-Stunden-Test dürfte in der Tat nicht nach jedermanns Gusto sein. Auch das Reisen in ferne Kontinente ist mit allerlei Unbill verbunden. Wer sitzt schon gern maskiert zehn oder mehr Stunden in einem Flieger, ehe er sein Ziel erreicht. Ehe ich mich ständig diesem Stress unterziehe, greife ich lieber zu einem spannenden Buch, gebe mich dem Zauber exotischer Destinationen hin und lasse mich in unbekannte Regionen entführen. Heute ist „Eine Tigerfrau“ von Wolf-Ulrich Cropp angesagt. Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und tauche in die geheimnisvolle Welt Südostasiens ein.

Die Odyssee durch das Goldene Dreieck war nicht geplant. Nach einem längeren Aufenthalt in Afghanistan will der bekannte Autor, Journalist und Weltreisende Wolf-Ulrich Cropp eigentlich nur eine Auszeit in Thailand nehmen. Eine Art Ferien vom Ich. Ausspannen, schwimmen, lesen und die Gegend erkunden. Doch es kommt anders, als die besorgten Eltern eines alten Schulfreundes ihn bitten, nach ihrem Sohn Klaus zu fahnden, der – vom Pfad der Tugend abgekommen – vor Jahren in den Weiten Südostasiens spurlos verschwand.

Spinnbeinige Mangroven und bizarre Kalkfelsen

Wir begleiten den Erzähler auf seiner abenteuerlichen Spurensuche, die in einem thailändischen Dorf hoch über der Andaman-See beginnt. Begeistert zelebriert Cropp die fast überirdische Schönheit der Landschaft: „Zwischen spinnbeinigen Mangroven und bizarren Kalkfelsen, in luftiger Höhe über der See“ hat er das Gefühl, mitten im Ozean zu liegen. Doch dieses wunderschöne Land hat viele Schattenseiten, die der Autor dem Leser nicht vorenthält. Beschreibungen grandioser Panoramen in diesem satt grünen tropischen Paradies wechseln ab mit grausamen Szenen, die sich in den Niederungen der Megacity Bangkok abspielen. Das Kapitel über einen Besuch im berühmt-berüchtigten Bang Kwang Gefängnis – von Zynikern Hotel Hilton Bangkok genannt – geht an die Nieren. Hier sitzen zahlreiche wegen Drogendelikten zu lebenslanger Haft verurteilte Europäer ein, die unter unmenschlichen Bedingungen in Chaos und unbeschreiblichem Dreck dahinvegetieren. Mit Erleichterung stellt Cropp fest, dass Freund Klaus nicht unter den Insassen weilt.

Das buddhistische Kloster Tham Krabok der suchtheilenden Mönche in Thailand

Die Suche geht weiter und entführt den Leser im Laufe der Handlung in die tropische Welt Thailands und Myanmars (früher Burma), in die Tiefen des Regenwaldes und zu den Highlights buddhistischer Baukunst. Der Autor genießt seinen Aufenthalt in vollen Zügen. Er lässt den Leser teilhaben an seiner Begeisterung für atemberaubende Landschaften und berichtet gleichzeitig über Begegnungen mit Einheimischen, die seinen Weg kreuzen. Doch im Garten Eden lauert auch die Schlange. Cropp thematisiert akribisch die dunkle Seite Thailands, wo Drogenbarone das Sagen haben und nur die Prostitution junger Frauen den Familien das Überleben ermöglicht. Das Kontrastprogramm zu diesem Elend findet im berühmten Fünf-Sterne-Luxustempel „Mandarin Oriental“ Bangkok statt, wo der Autor beim Verzehr sündhaft teurer Langustenschwänze einen ortskundigen Geschäftsmann trifft. Dieser gewährt ihm einen Einblick in Thailands Drogenwelt. Mohnanbau, Heroinlabore, Drogenschmuggel, erklärt der, waren gestern. Seitdem Afghanistan als Hauptlieferant für Heroin die Szene beherrscht, haben die Bosse im Urwald Giftküchen installiert, die in zunehmendem Maße Amphetamine produzieren. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Ob Freund Klaus hier zu finden ist?

Wo ist Klaus?

Heute wenden wir uns der legendären „Brücke am Kwai“ zu. Die älteren Leser werden sich noch an den grandiosen von David Lean in Thailand gedrehten Film mit Alec Guinness in der Hauptrolle erinnern. Guinness spielt darin einen britischen Offizier, der mit seinen Kameraden während des Pazifikkrieges in die Fänge der Japaner gerät und gezwungen wird, eine Eisenbahnbrücke über den Fluss Kwai in Indochina zu bauen. Unvergesslich die Szene, in der die Gefangenen auf ihrem beschwerlichen Weg durch den Dschungel trotzig jene zündende Melodie pfeifen, die sich in den Endfünfzigern monatelang als Nummer eins in den internationalen Charts hielt. Das spannende Kapitel über den Bau, die Zerstörung und schließlich die Rekonstruktion der Brücke ist so anschaulich beschrieben, dass der Leser sich mitten im Geschehen wähnt.

Karenfrau in Nord-Myanmar: Wer schön sein Awill, muss leiden

Bislang gibt es noch immer keine heiße Spur, die auf den Verbleib von Freund Klaus hinweist. Doch Cropp lässt sich nicht entmutigen, sondern forscht unverdrossen weiter. Er lädt zu einer Flussfahrt auf dem Mekong ein, begleitet uns durch den Dschungel und stellt uns jene „Giraffenfrauen“ vor, die mit ihren in Metallreifen gezwängten überlangen Hälsen das weibliche Schönheitsideal Myanmars verkörpern. Schließlich kommt es zu der Begegnung mit „einer Tigerfrau“ namens Sami. Die Titelgeberin des Buches gilt als die Attraktion des Zoos von Bangkok, wo sie sich, Kopf an Kopf mit einem prachtvollen Königstiger, von sensationsgierigen Besuchern ablichten lässt.

Der Autor und haarigste Mönch in seiner Klause des Klosters Tham Krabok

Selbst ein unermüdlicher Geist wie Wolf-Ulrich Cropp benötigt hin und wieder eine Ruhepause. „Im Kloster am Wege beim Mönch ich verweile. Oh, kurze Muße im Leben voll Eile.“ Feng Meng-hung, der Verfasser dieses kurzen Gedichts, war offenbar ein sehr weiser Mann. Ihm will es unser Autor gleichtun. Denn wo entspannt der Mensch sich besser als in der Ruhe und Abgeschiedenheit eines buddhistischen Klosters. In Tham Krabok bezieht der „Novize“ eine karge Zelle und muss sich einem Initiationsritual unterziehen, das es in sich hat. Dem aus zahlreichen Heilpflanzen zusammen gemixten „Cocktail“ – mehr Brechmittel als Getränk – werden tiefenreinigende Kräfte nachgesagt. Cropp trinkt ihn todesmutig und unterwirft sich für mehrere Wochen den strengen Klosterregeln. Chapeau. Geschadet hat ihm diese Erfahrung in kratziger Mönchskutte bei karger Kost offenbar nicht. Ganz im Gegenteil. Sein – Zitat – „tausend Meilen langer Weg zu sich selbst“ hat ihn für sein künftiges Leben gestählt.

Mit dieser Einsicht endet eine grandios erzählte Reportage kreuz und quer durch die magische Welt verklärender Narrative und brutaler Einsichten in menschliche Abgründe. Nur eine Frage bleibt offen. Der geneigte Leser möchte endlich erfahren, ob der Autor auf seiner langen Reise den verschollenen Freund wiedergefunden hat. Darüber aber hier kein Wort. Wer das wissen will, muss „Eine Tigerfrau“ von der ersten bis zur letzten Zeile selbst lesen. Es lohnt sich.

Epilog

Was in sämtlichen Büchern des „globetrottenden“ Autors Wolf-Ulrich Cropp fasziniert, ist seine Fabulierkunst, angereichert mit einem genialischen Wissen über diverse Kulturen, Land, Leute und deren Befindlichkeiten. Der Autor wirft stets einen unverstellten Blick auf alles Fremde. Er versucht sich in andere Sitten und Gebräuche hineinzu“leben“ ohne jemals zu bewerten oder gar zu verurteilen.

Eine große Hilfe für den Leser ist der mehrseitige Abriss über den Buddhismus (Seite 419 ff.). In knapper klarer Form weist Cropp den Leser in die Lehre des Siddharta Gautama ein, der uns besser unter dem Namen Buddha (der Erleuchtete) bekannt ist.

Last but not least: Die zahlreichen vom Autor selbst geschossenen Fotos tragen nicht nur zum Verständnis, sondern auch zum Charme dieses Buches bei.

Buchcover

„Eine Tigerfrau“ von Wolf-Ulrich Cropp, erschienen im Verlag Expeditionen, 415 Seiten, ISBN: 978-3-947911-39-4 Preis: Euro 14,90

Corona, Cofefe oder guten Morgen Bruno Gröning

Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht
Bild: Reimer Boy Eilers

#Staywoke. Corona ist genauso wie Cofefe. Experten versuchen sich an Erklärungen, doch wir Alltagsmenschen schütteln erst einmal den Kopf und fragen uns einfach: Wie konnte das geschehen? Will man Corona verstehen, ist es durchaus hilfreich, sich Cofefe anzuschauen. Beide waren bis vor kurzem völlig unbekannt, dann erschienen sie am Horizont unserer Wahrnehmung und warteten nicht lange. Sie verbreiteten sich mit viralem Tempo über den Planeten.

Corona kam aus Wuhan zu uns, genauer, vom dortigen Wildtier-Großmarkt, Cofefe entwich dem Weißen Haus. Corona ist ein Lebewesen, Cofefe seine Parallele im Wortreich, es ist ein Wortwesen. Genauer gesagt, ist Cofefe eine Mutation des Wortes Covfefe – von Donald Trump, am 31. Mai 2017, um sechs Minuten nach Mitternacht mit einem Tweet in die Welt gesetzt. Er twitterte: „Despite the constant negative press covfefe.“ Trotz der ständig negativen Presse Covfefe.

Als ich jünger war, hörten wir den Song: „Am 30. Mai ist der Weltuntergang, wir leben nicht mehr lang, wir leben nicht mehr lang …“ Nun ja, mit dem 31. sind wir noch einmal haarscharf davongekommen, sieben Minuten trennten uns vom ominösen Vortag, aber alles ist in der Pandemie mit allem verknüpft, natürlich ist nicht nur der Tag, sondern auch die Uhrzeit für die Geburt von Covfefe von Belang, um Mitternacht, wenn der Schadenszauber seine Flügel breitet und die bösen Wünsche fliegen. Coronas Geburt liegt leider noch ein wenig im Ungefähren, doch ich würde drauf wetten, dass sie an einem der Weihnachtstage des Jahres 2019 „um Mitternacht“ geschah.

Wundern sollte sich niemand über die Parallelen im Wort- und Virenreich. Die Variante Cofefe ist eine Optimierung unter rein virologischen und pandemischen Aspekten. Die Mutation hat sich dem Menschen angepasst, sie geht glatter über die Zunge und hilft damit ihrer Verbreitung. Als Internet Meme verteilten sich beide Varianten augenblicks im digitalen Universum.

Bleiben wir noch einen Moment bei der Geburt. Sie ist etwas sehr anderes als die Verbreitung. Zuschlagen kann das Virus an jeden Ort und in den unterschiedlichsten Situationen. Wir alle sind das Zielobjekt viraler Attacken, in diesem Text künftig Ziviatt genannt. Doch die Geburt des Virus verlangt nach sehr besonderen Umständen. Nötig ist ein ungesundes wuseliges Treibhausklima voller divergentem menschlichen Verhalten, das in Endlosschleifen und auf engstem Raum um sich selber kreist und auf keine guten Ratschläge hört. Mit anderen Worten, es ist ein soziales Rührwerk, das als perfekter Brutreaktor fungiert. Ob Wildtiermarkt in Wuhan oder Weißes Haus unter Trump, aus virologischer Sicht konstatiert das aufgeschreckte Ziviatt: Passt schon! Wie rührend ist das denn? Fuck …

Fledermäuse und Schuppentiere

Apropos chinesischer Wildtiermarkt, da haben wir uns also einen großen Grabbeltisch mit Shopping zwischen Fledermäusen und Schuppentieren vorzustellen. Es heißt von berufener Seite, dass Artensterben, Umweltverschmutzung und Klimawandel das Virus begünstigen, wenn es im Begriff steht, vom Tier auf den Menschen überzuspringen. Im Weißen Haus sind das alles in den letzten Jahren Gähnthemen gewesen: entweder es gibt sie nicht oder nicht so wichtig. Vielleicht ist Cofefe also einfach ein Gruß von einem Viren-Hotspot zum anderen. Hi, Wuhan! Hau rein! Cofefe! Mir gefällt diese Erklärung.

Nun könnte ein allzu kluger Kopf oder sagen wir gleich, ein Schlaumeier, einwenden: Wie kann das angehen, wenn zwischen Cofefe und Wuhan zwei Jahre liegen? Aber das ist Old School, zu jeder Pandemie gehören alternative Fakten, und ich hege die Vorstellung, dass beide lange voneinander ahnten, Wuhan und das Weiße Haus. Manchmal brauchen Grüße so lange, um anzukommen, dann werden sie umso mehr geschätzt. Cofefe!

Natürlich wird der Betreiber eines sozialen Rührwerks, dem ein Virus entfleucht ist, das niemals zugeben. Hat man jemals von einem Beteiligten an einer Wirtshausschlägerei gehört, der gesagt hätte: Hallo, ich war’s! Ich habe angefangen. Die ganzen ausgeschlagenen Zähne nehme ich auf meine Kappe … Das wäre wohl ein Wunder. In Wuhan wurde der Arzt, der als erster auf Corona hingewiesen hatte, von den Behörden schikaniert. Als ob Shakespeare seine Hand im Spiel gehabt hätte, ist er am Ende sogar an dem Virus gestorben. Wir wollen ihn nicht vergessen, sondern ihn im Abspann nennen, Li Wenliang wurde nur 34 Jahre alt.

Den chinesischen Autoritäten hat das Leugnen wenig genützt. Wuhan wurde zur Geisterstadt. Auf den Intensivstationen brachen Ärzte vor Erschöpfung zusammen. Die ganze Welt mühte sich, ihre Grenzen vor dem Unheil aus Wuhan zu schließen.

Virenpate Donald Trump verfolgte eine andere Strategie. Er leugnete zwar nicht die Existenz von Cofefe, das wäre angesichts der massenhaften Retweets auch schlecht gegangen, aber er deutete seine Natur um und sprach von einem durchaus normalen Wort. Kein Keimling also – und basta! Ein Wort ohne Risiken und Nebenwirkungen. Mit dieser Botschaft schickte er seinen Pressesprecher ins Getümmel. Die Stimme des Weißen Hauses, Sean Spicer, sagte am Tag nach dem Tweet bei einem Journalistenbriefing: „Der Präsident und ein kleiner Personenkreis wissen ganz genau, was er gemeint hat.“

Mein Versuch, Cofefe zu deuten, ist nur einer unter vielen. Und da bin ich keineswegs traurig drum, im Gegenteil, die Welt der Viren ist bunt, wenngleich nicht immer zur Freude des menschliches Auges. Eine Unzahl von Ziviatten hat sich mittlerweile ihre eigenen Gedanken gemacht, viele haben ihren Weg ins Urban Dictionary gefunden. Für mich ist es also der Gruß rüber nach Wuhan. Beliebt im Netz sind auch folgende Auslegungen des Memes:

Der Versuch, klug rüberzukommen, wenn du nicht weißt, was Sache ist

Beispiel: Ich habe dem Robert-Koch-Institut grundlegende Fehler nachgewiesen, alles Cofefe.
Die Welt mit Tippfehlern ablenken, während man ihr gehörig eins auswischt.
Beispiel: Das Pariser Klimaabkommen ist heiße Luft. Wir bauen zehn neue Kohlekraftwerke. Cofefe!
Der Versuch, den Antichrist und seine Helfershelfer anzurufen.
Beispiel: Ich bin die Stimme der Bewegung. Fort mit der Lügenpresse! Pandemie? Bullshit. Ich kann es richten. Cofefe!

Was lernt der Ziviatt noch von Cofefe? Eine der förderlichsten Umweltbedingungen für seine Verbreitung liegt im sturen, uneinsichtigen, besserwisserischen und testosterongetränkten Verhalten seines Trägers. Insofern kann das Wortvirus seinem Geschick nicht genug danken, dass es auf den Potus Trump traf. (Potus hört sich irgendwie wie ein neuer Virus an, meint aber nur President of the United States.) Wäre Cofefe stattdessen einem Tweet von Joe Biden entfleucht, und der neue Präsident hätte gegrinst und gesagt: „Sorry, hab mich vertippt.“ – das Wortvirus wäre augenblicks wieder aus dieser Welt verschwunden. Trump dagegen, großmäulig wie ein Megaphon und unfähig, auch nur den kleinsten Fehler einzugestehen, war der ideale Superspreader.

Reisen wir mit den Viren von Wuhan übers Weiße Haus nach Deutschland. Die Corona-Pandemie, sagt die Kanzlerin, ist die größte Herausforderung für unsere Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Angela Merkel ist eine kluge Frau, und deshalb tun wir gut daran, uns in diese Epoche zu begeben und zu gucken, ob sie uns etwas zur Erhellung unserer Zeiten zu sagen hat. Was hat die Verheerung der Gesellschaft nach 1945 in den Köpfen ihrer Menschen bewirkt? Es muss nicht immer Pest und Mittelalter sein, auf die wir als Mahnung panisch und pandemisch schauen.

Wenn die Realität keinen Sinn mehr macht, flüchtet man aus ihr. Auf Dauer ist das womöglich unklug, doch über kurze Frist leuchtet es durchaus ein. Die hellsichtige – Hellseherin? – Hannah Arendt beschrieb den Urlaub von der Wirklichkeit, den sich viele Deutsche nach dem verlorenen Krieg nahmen, sie hatten einfach keinen Bock mehr darauf, „zwischen Fakten und Meinungen zu unterscheiden“. Wer wollte schon dem Schrecken, den die Deutschen angerichtet hatten, und dem Elend, das dann folgte, unverblümt ins Auge sehen? Nö, man hatte nichts gewusst, und schuld war man schon gar nicht.

Da hatte parallel zu Wirtschaftswunderzeiten eher der Wunderheiler Bruno Gröning Konjunktur. Seine Diagnose: „Jedes Wohnhaus ist ein Krankenhaus.“

Hexenverfolgung und Marienerscheinungen

Und damit hatte er vermutlich recht, jenseits der Spekulation auf einen großen Markt für seine Kunst. Oder hatte der Nationalsozialismus etwa nicht die Seelen der Deutschen zerstört? Die amerikanische Historikerin Monica Black von der University of Tennessee, die zu Bruno Gröning geforscht hat, berichtet, dass die Zahl der Hexenverfolgungen und Marienerscheinungen im Nachkriegsdeutschland rasant anstieg. Da füllte der deutsche Medicus des Supranaturalen, des Übernatürlichen, eine schmerzliche Lücke. Bruno Gröning konnte einen göttlichen „Heilfluss“, den er als Alternative zum herrschenden Elend versprach, in Richtung Seelenkur lenken. Seinen unübersehbaren Kropf verstand er selbst als „Schwellung durch ebendiese Kraft“. Der Heilfluss strömt bis heute. Immer noch besteht der Bruno-Gröning-Freundeskreis und rührt im Heilenden. Cofefe!

Wenn die Situation in einem Land allzu brenzlig wird, ist es quasi zwangsläufig, auf die Frage nach den Fakten ein übel riechendes Häuflein zu setzen und sich erfreulicheren Fantasien zuzuwenden. Ein berühmter Vorgänger und geistiger Ziehvater des Trumpschen Pressesprechers Sean Spicer war Comical Ali, wie ihn die Weltgemeinschaft taufte. Spicers Kollege befand sich seinerzeit, es war 2003, in Diensten von Saddam Hussein. Als die amerikanischen Truppen bei der Invasion des Iraks unmittelbar vor der Hauptstadt standen, erklärte der Informationsminister Mohammed Saif al-Sahaf aka Comical Ali: „Bagdad ist sicher. Die Ungläubigen begehen zu Hunderten Selbstmord vor den Toren der Stadt.“ Sehr komisch, aber oho!

Und nun von dem Ausflug in die Weltpolitik wieder zu uns nach Hause. Das Ziviatt ist durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet: seine Verwundbarkeit und seine Angst. Beides ist natürlich miteinander verschränkt und führt über die schlechte Laune und schlechtes Benehmen in die Depression. Was kann der Mensch tun, um sich besser zu fühlen? Verdammt, dieses Virus ist so was von Cofefe! Ich respektiere das. Der Reiche hat objektive Möglichkeiten, nehmen wir als kulturelles Paradigma nur das florentinische Dekameron. Wer Ressourcen hat, kann sich isolieren, ohne groß auf Annehmlichkeiten zu verzichten. Er kann sich dabei sogar gut unterhalten.

Das schlechtbemittelte Ziviatt wird in das Reich der Wünsche und der Magie ausweichen. Entweder spielen wir die Gefahr des Virus herunter oder wir erhöhen auf spirituelle Weise unsere Unverwundbarkeit, am besten wirkt eine Kombination von beidem. Und bloß keine Maske tragen! Denn damit konstatiert das Ziviatt nur in aller Öffentlichkeit das Gegenteil. Der Maskenträger symbolisiert nichts als Stress und eigene Verwundbarkeit. Man wird ihn für krank und gefährlich halten. Das macht aggressiv, das Ziviatt möchte im Angesicht der Maske spucken wie ein Lama.

#Staywoke. Was lernen wir daraus? Das Ziviatt tröstet sich mit einer gesicherten Erkenntnis. Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Comical Ali daher. Cofefe!

 

 

Rucksack – A Global Poetry Patchwork

Rucksack 2020, Foto: Antje Stehn :: Die Installation ist seit September 2020 im Il Piccolo Museo della Poesia, Chiesa di San Cristoforo (Piacenza/Italien) zu sehen.

Drei unserer Mitglieder, nämlich Emina Čabaravdić-Kamber, Maren Schönfeld und Gino Leineweber, sind an dem internationalen Poesie-Projekt mit Gedichten beteiligt. Das von Antje Stehn initiierte Projekt beschreibt sie auf ihrer Seite thedreamingmachine.com:

Rucksack, bei Global Poetry Patchwork ist ein Kunstinstallationsprojekt, das am 26. September 2020 im Piccolo Museo della Poesia in Piacenza (Italien) eröffnet wird. Es besteht aus zwei Makroarbeiten: einer Installation mit einem großen Beutel, dem Rucksack, aus getrockneten Teebeuteln und einer Ausstellung mit kurzen Gedichten, die am Ende der Ausstellung in das Museumsarchiv aufgenommen werden sollen. Eine Audio-Loop-Installation bietet dem Publikum die Möglichkeit, den Stimmen von Dichtern zu lauschen, die in ihrer Muttersprache rezitieren. Das Werk vereint eine große Anzahl von Menschen, Orten, Visionen, Sprachen und unterstreicht den Wert der Nähe, der in diesem von Distanz und Enge geprägten historischen Moment, von der akuten Prekarität des menschlichen Netzwerks, so bedeutsam ist. 

Warum Tee? Warum Poesie?

Teebeutel haben eine lange Geschichte, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, als die Chinesen anfingen, kleine quadratische Beutel zu nähen, um das Aroma der verschiedenen Tees besser zu bewahren. Die „Tee- und Pferderoute“ entstand während der Tang-Dynastie (618-907), lange vor der Seidenstraße, um die Handelsbeziehungen zwischen Tibet und China zu festigen. Und seitdem gehören Teebeutel zu den kleinsten Behältern, die wir in jedem Haushalt verwenden und finden. Tragetaschen gehörten zu den ersten Werkzeugen, die Frauen und Männer benutzten, um Gegenstände und Erinnerungen zu transportieren. Unsere Vorfahren waren Jäger und Sammler, aber in Wirklichkeit dominierten Sammler, da 80% ihrer Nahrung aus dem Sammeln von Samen, Wurzeln, Früchten in Netzen, Säcken und in jeder Art von Lichtbehälter stammten. Taschen waren gestern wie heute wichtige Transportmittel, wie wir sehen, dass Tüten in den Supermärkten als Einkaufsbehälter verwendet werden. 

seeking unity / by drawning the argument / in a cup of tea :: Haikuinstallation: Maren Schönfeld / Übersetzung: Barry Stevenson

Poeten aus aller Welt haben Gedichte eingereicht, teilweise auch künstlerisch verpackt, und kurze Filme mit der Lesung ihrer Gedichte in ihrer Muttersprache gedreht. Diese sind auf dem Youtube-Kanal Rucksack a Global Poetry Patchwork zu sehen.

Deutsch-italienischer Lyrik-Nachmittag

Gemeinsam mit der Hamburger Autorenvereinigung gestaltet Antje Stehn mit den Autorinnen und Autoren Emina Čabaravdić-Kamber, Sabrina De Canio, Uwe Friesel, Don Krieger, Gino Leineweber, Claudia Piccino, Mamta Sagar und George Wallace einen Lyrik-Nachmittag. Die Begrüßung übernimmt die Vorsitzende der Hamburger Autorenvereinigung, Sabine Witt (ebenfalls Mitglied der DAP), die Moderation erfolgt durch die Initiatorin des Projektes, Antje Stehn, sowie den Hamburger Autor und Ehrenvorsitzenden der HAV, Gino Leinweber.
Die Lesung findet am Samstag, den 10.07.2021, als Zoom-Meeting statt. Der Beginn ist um 19:00 Uhr. Anmeldung unter info@hh-av.de, den Teilnahmelink erhalten Zuhörer dann per E-Mail.
Die Teilnahmegebühr beträgt € 8, für Mitglieder der HAV frei.

Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien.

Kaffeeklatsch à la carte

Foto: Antje von Hein

Es gibt Träume, aus denen man gar nicht mehr erwachen möchte. Um es mit Goethen zu sagen: „Verweile doch, du bist so schön.“ Am Muttertag hatte ich Blumen auf das Familiengrab gestellt und eine stille Zwiesprache mit meinem geliebten, bereits vor über fünfzehn Jahren verschiedenen Mütterchen gehalten. Müde geworden, ließ ich mich auf der Bank neben dem Grab nieder und fiel alsbald in einen süßen Traum. Ich saß bei hellem Sonnenschein auf der Terrasse eines Cafés am Strand der Ostsee, einen dampfenden Capuccino und ein großes Stück Nusstorte vor mir. Als ich gerade lustvoll die Kuchengabel zum Munde führen wollte, wurde ich durch einen erregten Wortwechsel brutal aus meinem Traum gerissen. Eine alte Frau in Seemannskluft, den Südwester keck auf dem schlohweißen Haarschopf, unterhielt sich lautstark am Handy mit einem unsichtbaren Partner, der sich partout nicht ihrer Meinung über Grabschmuck und Blumenerde anschließen wollte. Obgleich einige Friedhofsbesucher der Frau Handzeichen machten, ihre Stimme um einige Dezibel zu senken, fuhr diese unbeirrt in ihren Tiraden fort. Als ich sie später an der Bushaltestelle wieder traf, schenkte sie mir ein breites Lächeln und sagte: „Tut mir echt leid, dass ich ein bisschen laut war. Aber mein Mann ist fast taub. Und ich habe den größten Teil meines Lebens auf einem Markt gearbeitet. Und wer da Erfolg haben will, muss schon mal die Stimme heben.“ Das erklärte natürlich alles. Ich stellte mir die Frau im Geiste auf dem Fischmarkt vor, wo sie mit Stentorstimme Aale oder Bananen unter das Volk brachte. „Na dann man tschüüüs,“ rief sie mir zu, sprang behände aus dem Bus und zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch sie genüsslich inhalierte. „Ich geh’ jetzt zu meinem Ede, der hat schon den Tisch gedeckt und Kaffee gekocht,“ ergänzte sie ihren Monolog, „und holen Sie sich man auch irgendwo nen Becher. Tut doch echt gut nach all den ollen Gräbern.“

„Tempora mutantur et nos mutamur in illis”, sagt der Lateiner. In der Tat, die Zeiten haben sich geändert, und wir haben uns ihnen wohl oder übel anpassen müssen. Statt eines gepflegten „Konditerns“ an Marmortischen, wie meine Eltern weiland Besuche in Cafés nannten, stehen wir heute auf der Straße, den Plastikbecher mit dem heißen Kaffee in der rechten und einem Stück Gebäck in der linken Hand. „Da musst du schon ganz schön balancieren, damit du dir das Gesöff nicht über den Pelz kippst“, scherzte unlängst eine Freundin und verbrannte sich prompt die Hand. Dabei fällt mir der verballhornte Text eines Schlagers aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein, den meine Mutter mit ihren Freundinnen in fröhlicher Runde zu singen pflegte: „In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei und fraßen für drei.“ Tja, mit Sitzen ist es ja zurzeit auch nichts. Stehen auch nur unter Vorbehalt. Stand ich mit zwei Freundinnen doch unlängst in der äußersten Ecke des Europa Centers. Kein Mensch weit und breit. Nichts Böses ahnend nippten wir an unserem Kaffee, als zwei sich martialisch gebärdende Männer in Uniform mit großen Schritten auf uns zukamen und uns aufforderten, sofort das Center zu verlassen. Unser Argument, es sei doch niemand hier außer uns wurde mit einem schroffen „Vorschrift ist Vorschrift“ abgeblockt. Wir fanden uns also bei strömendem Regen auf der Straße wieder. Aber Not macht bekanntlich erfinderisch. Hatte nicht Birgit ihren schicken BMW in einer Nebenstraße ganz in der Nähe geparkt. Eilig schritten wir zur Tat und genossen einen außerordentlich unterhaltsamen Kaffeeklatsch in wohliger Wärme bei dezenter Musik im Auto. In bester Laune machten wir uns später auf den Heimweg. „Es geht auch anders, doch so geht es auch“, heißt es in Bert Brechts Dreigroschenoper. So ist es. Die Erfahrung während der Coronakrise hat uns gelehrt, die gewohnten Pfade zu verlassen und andere Wege zu beschreiten. Zugegeben, unser Kaffeeklatsch im Auto war lustig und originell. Dennoch wiegt er in keiner Weise den Besuch eines Cafés auf. Denn da sitzen wir entspannt an einem Tisch, lassen uns bedienen und kommunizieren mit anderen Menschen. Dies ist die Freiheit, nach der wir uns sehnen und die wir so schnell wie möglich zurück haben wollen. Amen.

Was Körper und Geist im Inneren verbindet

Mit dem gut 200 Seiten starken Gedichtband „Silberfäden“ legt Gino Leineweber in einer Gesamtausgabe seine beiden ersten Sammlungen vor. Der Verleger und Poet Simo Eric aus dem Verlag „Das Bosnische Wort“ würdigt den international vernetzten Lyriker und Verleger in seinem Vorwort.

Dessen Lyrik wechselt zwischen – philosophischen – Blicken auf das große Ganze und situativen Betrachtungen einzelner Themen, Erlebnisse und Empfindungen. Der Autor verhandelt ehrlich und unverstellt, ohne inhaltliche oder formelle Attitüden, in knapp formulierten, prägnanten und überwiegend kurzen Poemen den jeweiligen Gegenstand seines Gedichts. Dabei lässt er angenehmen, aber nicht zu großen Raum für die Interpretation. Er bezieht Position, ohne eine Lesart zu vorzugeben. Ernste Themen, auch bedrückende wie das Leid, das Menschen an anderen begehen, wechseln mit lakonisch-humorvollen Texten ab, wenn der Autor sich selbst, aber auch das vermeintlich typisch Männliche bzw. Weibliche aufs Korn nimmt.

Der Einblick in männliches Empfinden, humorvoll zuweilen, manchmal auch größte Pein durchlassend, ist faszinierend. Das Alter(n), die Rolle in Beziehungen und in der Welt geht in die Lyrik ein und trägt zwischen den Zeilen Ungesagtes weiter, das nach der Lektüre fortwirkt. Die poetische Auseinandersetzung mit weltlichen Dingen wie Besitz und Status bleibt so angenehm zurückhaltend und verknappt, dass das Nachdenken darüber und das Herstellen eines Bezugs zur eigenen Lebenssituation fast unbemerkt beginnen. Von der allumfassenden Perspektive zurück im Detail, zeigt Gino Leineweber auf, was wir alle in den Beziehungen zu unseren Familien und Partnern erleben und versäumen. Berührend spiegelt er u.a. Bande zwischen Vater und Sohn, das als selbstverständlich Hingenommene der elterlichen Zuwendung und Versorgung, die Angst, dass es zu spät sein könnte, etwas zu äußern. Auch Prägungen der Kindheit sind eindrucksvoll Thema:

Schulzeit

Fliehen lernen
Andere Welten
Endlich lesen

Dabei schreibt er mal mit lyrischem Ich, mal in der dritten Person, was eine distanzierte, originelle Perspektive ist. Dass der Lyriker hieraus jedoch kein Dogma macht, sondern offensichtlich für jedes Gedicht entscheidet, ob es ein lyrisches Ich – oder ein Du – bekommt oder nicht, zeigt die aufmerksame Komposition. Überhaupt lassen die Gedichte den Schluss zu, dass Gino Leineweber ein reflektierter und bewusst wahrnehmender Mensch ist. Ein Gedicht aus dem ersten Kapitel empfinde ich als wegweisend:

Ich

Das Ich ist
Was Körper und Geist
Im Innern verbindet

Die Mitte der Platz
An dem
Von Augenblick zu Augenblick
Sich das Bewusstsein findet

Mich haben die Gedichte inspiriert, innezuhalten, hinzusehen, meine Innen- und Außenwelt bewusster wahrzunehmen und die Empathie für meine Mitmenschen nicht zu vergessen.

Immer schön cool bleiben

„O tempora, o mores”, ruft die Lehrerin in gespieltem Entsetzen aus, während ihre Klasse sich trotz ihrer Bitte um Ruhe und Ordnung schreiend und schubsend in den S-Bahn Waggon ergießt. Im Nu liegen Ranzen und Rucksäcke wild verstreut am Boden und ein zäher Kampf entbrennt um die Fensterplätze. Als zwei halbwüchsige Rowdys mit den Fäusten aufeinander losgehen, greift die Lehrkraft entschlossen ein: „Also, Daniel, Jörg, immer schön cool bleiben“, mahnt sie mit beschwörender Stimme und erinnert dabei lebhaft an eine Dompteurin im Raubtierkäfig.

Auf der Rolltreppe begegne ich den beiden Kampfhähnen wieder. Ihre Streitigkeiten haben sie inzwischen beigelegt. Dafür belästigen sie jetzt voller Inbrunst andere Leute, indem sie sich mit verschränkten Armen vor ihnen aufbauen und sie am Verlassen der Treppe hindern. Eine elegante ältere Dame, die offenbar den Anschlusszug noch erreichen will, versucht sich mit aller Macht an ihnen vorbei zu winden.
„Hey, du alte Gruftspinne, mal’n bisschen mehr Benehmen“, sagt der eine der beiden Flegel. Da entfleucht der Frau, die vor Wut putterot angelaufen ist, ein Wort, das zivilisierte Menschen üblicherweise mit „Armleuchter“ zu umschreiben pflegen. Wie von einem Zauberstab berührt, treten die Jungen zur Seite und sehen der eben noch Geschmähten mit unverhohlener Ehrfurcht nach. „Echt geil“, sagt der eine, „was die Mutter für Ausdrücke drauf hat.“

Nachwort: Das oben Geschilderte widerfuhr mir wenige Wochen vor dem ersten Lockdown, als unser Dasein in geregelten Bahnen verlief und wir alle noch unmaskiert die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen durften. Da tobte das pralle Leben, wozu auch gelegentliche verbale Entgleisungen von frechen Buben wie Daniel und Jörg gehörten. Ich gestehe, dass diese mir jetzt viel weniger ausmachen würden als die gegenwärtige depressive Stimmung, die wie Blei auf uns allen lastet.

 

Alltägliches – schmerzlich vermisst

Buchcover

Als Joachim Frank die Kurzgeschichten und Erzählungen seines Bands „Farben in wechselndem Licht“ schrieb, dachte er ganz bestimmt nicht daran, dass wir es mit einer Corona-Pandemie zu tun bekämen. Und so erscheinen die unterhaltsamen, zum Nachdenken anregenden oder auch zum Lächeln verführenden Erzählstücke über das Lesevergnügen hinaus in einem besonderen Licht.

Da konnte man noch reisen, ohne in Quarantäne zu müssen. Man ging ganz selbstverständlich ins Café, man kam sich nah und von „Munaschu“ ist keine Rede. Damit hat Joachim Frank mit seinem Buch zunächst in den Fokus gerückt, wie unser Leben vor Corona aussah, was für uns selbstverständlich gewesen ist und was wir nun schmerzlich vermissen. Das thematische Spektrum der Erzählungen spart jedoch auch Krankheit nicht aus, sondern gibt einfühlsam Einblick in Folgen einzelner Schicksale, die Menschen wie dich und mich heimsuchen. Dabei folgt der Autor dem Motto „Weniger ist mehr“, konzentriert sich auf wenige, markant gezeichnete Charaktere und wenige Begebenheiten, die, von den Figuren unaufdringlich reflektiert, in den Lesern fortwirken dürften.

Das in fünf Kapitel unterteilte Buch (Reiseperlen/Abschiede/Blickwinkel/Take it easy/Weihnachten) deckt breite Leserinteressen ab. Das Reise-Kapitel beschränkt sich nicht auf Schilderungen von Örtlichkeiten, sondern bringt auch einige geschichtliche Hintergründe und setzt sich mit Klischees und Vorurteilen auseinander, ohne zu werten. Im Kapitel „Abschiede“ erzählt Joachim Frank einfühlsam von Wendepunkten, die bedrücken oder erleichtern. Berührend ist die Szene einer Männerfreundschaft zwischen einstmals sportlich aktiven Männern, von denen der eine nur mehr ein Schatten seiner selbst ist. Das Ungesagte nimmt hier den meisten Raum ein, die Geschichte berührt sehr. Eine originelle und interessante Perspektive nimmt der Autor in den Geschichten „Inferno“ und „Ansichten eines Gemäldes“ ein, indem er sich in der erstgenannten Erzählung in den Maler Egbert van der Poel (1629-1684) hineinversetzt, dessen Schaffen sich nach einem Feuerinferno dramatisch veränderte, und in der letztgenannten gar aus der Perspektive des Gemäldes schreibt.

Bedrängnisse und Fettnäpfchen, die im Alltag nicht immer zu umschifft werden können und vor allem denjenigen, die das Ganze von außen betrachtet, viel Heiterkeit bringen, birgt das Kapitel „Take it easy“. Augen auf beim Beschenken der Ehegattin, möchte man dem Protagonisten der Geschichte „Fit in den Frühling“ zurufen.

Schließlich kommt die Sammlung mit dem aus einer etwas längeren Geschichte bestehenden Schlusskapitel wieder in der Gegenwart an, denn es geht auch hier um ein Weihnachten, das ganz anders als geplant verläuft. So wie es in diesem Jahr 2020 unvorhergesehenerweise sehr vielen Familien gehen dürfte, hat in dieser Geschichte nicht eine Krise von außen, sondern von innen alles in der Hand. Wird die Familie das Fest noch retten?

Die Sammlung kurzer Prosastücke von Joachim Frank ist wie geschaffen für diese Zeit: Sie unterhält, regt zum Nachdenken an, erheitert und gibt gute Impulse. Wenn man täglich eines der kurzen Werke liest, hat man 14 Tage lang etwas von dem Buch. Fangen Sie doch Weihnachten damit an.

 

Joachim Frank wurde 1952 in Hamburg geboren. In Prisdorf und Schweden lebend, schreibt er Erzählungen und Kurzgeschichten, die er in mehreren Einzeltiteln sowie in Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien veröffentlicht. Unter den Preisen, die er bekommen hat, sind der Kurzgeschichtenpreis der Hamburger Autorenvereinigung (2016) und der Preis des Erwin-Strittmatter-Vereins (2019).

Joachim Frank: Farben in wechselndem Licht, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2020

Joachim Frank

Von Kindern lernen

Es ist ein alter Hut. Viele Bürger halten sich nur ungern an die einfachsten Verkehrsregeln. Wie oft muss ich erleben, dass ein Auto noch über die Kreuzung vor meinem Haus „nagelt“, wenn die Ampel schon längst auf Rot umgesprungen ist. Auch vor Zebrastreifen drosseln manche Fahrer nur ungern das Tempo. Häufig muss man beherzt ausschreiten, um sie noch rechtzeitig zum Halten zu bewegen.

Und wie steht es mit den Fußgängern, die nicht selten geduldig vor Ampeln ausharren müssen, bis sie endlich die Straße überqueren dürfen, auch wenn weit und breit kein Fahrzeug in Sicht ist? Ich gestehe, dass ich in so einem Fall nicht immer auf grünes Licht warte, solange keine Kinder in der Nähe sind. Dem Nachwuchs gegenüber zeige ich mich stets als vorbildliche Verkehrsteilnehmerin.

Zumindest bis gestern Mittag. Die Sonne blendete mich, als ich in der Nähe des Harburger Bahnhofs bei Rot schnell über eine Straße lief. „Rotgänger, Todgänger, Grüngänger leben länger“, erschallte ein mehrstimmiger Kinderchor hinter mir. Wie vom Schlag gerührt drehte ich mich um. Da standen vier etwa zehnjährige Schulmädchen am Straßenrand und drohten mir mit dem Finger. Mein Gott, die lieben Kleinen hatte ich ganz übersehen! „Entschuldigt“, stammelte ich verlegen. „Aber da habe ich wohl geschlafen. Kommt ja mal vor.“

„Sollte es aber nicht“, entgegnete das Größte von den Mädchen streng. „Erwachsene erzählen uns doch immer, wo es langgeht. Dann müssen sie aber auch Vorbilder sein.“ Wo Kinder recht haben, haben sie recht. Also schwor ich hoch und heilig, nie wieder bei Rot über die Straße zu gehen. Das versöhnte die jungen Damen offenbar, die sich mit einem freundlichen „Tschüs, und noch einen schönen Tag“, von mir verabschiedeten. Ich habe mir übrigens gelobt, dieses Versprechen niemals zu brechen. Großes Indianerehrenwort!

Diese Glosse erschien bereits im Hamburger Abendblatt
Foto: Michael_Luenen, Pixabay

„Schreib einfach!“

Schreiben kann erfüllen, befreien, berauschen und glücklich machen, aber sich auch als schwierige Angelegenheit entpuppen.  Wie fängt man an, über was und in welcher Form soll man schreiben, wie überwindet man Schreibblockaden? Maren Schönfeld möchte mit ihrem neuen Buch hierzu Hilfestellung leisten, aber nicht nur das. Sowohl für Anfänger als auch für erfahrene Autoren hat sie zahlreiche Tipps und Übungen zusammengetragen, die unmittelbar in die Kreativität führen und dazu einladen, rund um das Thema Schreiben Neues zu entdecken und auszuprobieren. Das erste von insgesamt drei Kapiteln beinhaltet 32 Übungen, die als Schreibimpulse mit teils spielerischem, teils reflektorischem Charakter helfen sollen, in den Schreibprozess zu kommen. Dazu gibt es Anregungen, wie man im hektischen Alltag regelmäßige, kleine Auszeiten zum Schreiben finden kann.
Das zweite Kapitel enthält umfangreiche Anleitungen zum autobiografischen Schreiben, während es im letzten Kapitel um das Thema Lyrik geht. Hier werden unterschiedliche Gedichtformen aus der klassischen Poesie vorgestellt, wie Tanka, Haiku, Sonett, Fünfzeiler, Elfchen und Rondell, dazu Scherz- und Nonsenspoesie, wie Limerick, Leberreim und Klapphornvers. Beispiele zur konkreten Poesie, sowie verschiedene Schreibspiele und Hinweise zu weiterführender Literatur runden das Buch ab.
Wie in allen Disziplinen helfen auch beim Schreiben handwerkliche Kenntnisse enorm, sich besser ausdrücken und weiterentwickeln zu können. Diesbezüglich hat das Buch einen großen Fundus zu bieten. Die fast zwanzigjährige Erfahrung der Autorin als Schreibcoach und Dozentin in der Erwachsenenbildung sind das große Plus des Buches. Die Tipps sind praxisnah und haben sich im Rahmen langjähriger Schreibkurse bei einer großen Teilnehmerzahl bewährt. Der einfühlsame und motivierende Schreibstil macht das Werk zum großen Lesevergnügen.
Fazit: Das Buch wird seinem Titel vollends gerecht und ist sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Autoren ein äußerst nützlicher Begleiter, den man immer wieder zur Hand nehmen kann. Eine klare Kaufempfehlung!

 

Taschenbuch : 112 Seiten
ISBN-10 : 3947911432
ISBN-13 : 978-3947911431
Abmessungen : 11.5 x 0.9 x 18.4 cm
Herausgeber : Verlag Expeditionen

Dreizehn Kilometer Poesie

Foto: Martin Lowsky

Eine Wanderung auf dem Klaus-Groth-Weg
Spätestens seit dem Gottesdienst zur Beerdigung von Helmut Schmidt ist nicht nur Hamburgern der Name Klaus Groth geläufig. Hatte doch Schmidt selbst verfügt, man möge die Vertonung von Groths plattdeutschem Gedicht „Min Jehann“ im Michel singen.

Groths bekanntestes Gedicht ist jedoch wohl die kurze Ballade von „Lütt Matten de Has“, in der der böse Fuchs den gutgläubigen Hasen verspeist. Weitgehend unbekannt jedoch ist Groths Prosawerk „Min Jungsparadies“, in dem er Kindheits- und Jugenderinnerungen aus dem kleinen Dithmarscher Ort Tellingstedt beschreibt. Nach wie vor berühren diese Aufzeichnungen vom Glück und Leid des Erwachsenwerdens den Leser und lassen ihn an eigene Erfahrungen zurückdenken.

Groth ist in jungen Jahren häufig vom Elternhaus in Heide zu Fuß nach Tellingstedt gewandert, um dort Onkel und Tante zu besuchen und jugendliche Freiheit zu genießen.

Tellingsted weer wit nog, dat man nich jüs mit sin Botterbrot inne Hand sik hineten kunn doch weert ok nich so wit, dat nich en Jung mit sin egen Been un Handstock, as de Tellingsteder sän, dar hin harrn much, wenn´t ok en Reis weer vun enige Stunn.

Diesen mittlerweile gut ausgeschilderten Klaus-Groth-Wanderweg kann man nun selbst nachgehen, auf den Spuren des großen Dithmarscher Dichters. An einigen Tagen im Jahr wird eine geführte Wanderung angeboten. So auch am 28. Juli 2020. Einheimische, Touristen, drei zugereiste Hamburger und ein Hund fanden sich am Startpunkt in Süderholm ein. Es herrschte allerbestes Wanderwetter, Sonne und Wind, weißblauer Himmel (wie bei uns zuhause, merkte ein bayrisches Ehepaar an).

Nach einer kurzen Einführung in die Biografie Groths und der beruhigenden Auskunft, dass es nicht darum gehe, möglichst schnell möglichst viel Strecke zu machen, sondern den Zweiklang von Landschaft und Poesie zu genießen, ging es los.

Der Weg führt durch Wald, Moore und Wiesen und bietet immer wieder weite Ausblicke in die unaufgeregte Dithmarscher Landschaft. Gerade für großstadtgeplagte Hamburger eine Erholung für die Seele. Der ortskundige Führer machte während der gut dreistündigen Wanderung immer wieder auf landschaftliche und historische Besonderheiten aufmerksam und rezitierte Texte von Groth. So bekamen die Teilnehmer das Gefühl, ganz dicht auf den Spuren eines Dichters zu wandeln.

Am Endpunkt, in Tellingstedt, wurde eingekehrt. Döner, Pizza und Eis brachten die müden Wanderer, zwei ausgezeichnete Würstchen den Hund wieder in Form. Und an allen Tischen fiel der Satz: Nächstes Jahr bin ich wieder mit dabei.

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Eine hochdeutsche Übersetzung vom „Jungsparadies“ erscheint demnächst  im elbaol verlag hamburg.

Auskunft über die nächste geführte Wanderung im September erteilt die Touristinformation Heide

Die Wirrnisse des Alltags

Lilo Hoffmanns neuer Roman spielt in Eimsbüttel, Lokstedt und St. Pauli.

Erst vergisst sie ein Kind aus ihrer Gruppe auf dem Spielplatz und dann fährt ihr auch noch so ein Modepüppchen ins Auto – die Woche fängt ja gut an!
Als Leserin bin ich sofort in der Geschichte, die so temporeich beginnt. An der Seite der Erzieherin Iris geht es, zeitweilig mit einem Eierlikör gestärkt, weiter durch deren turbulente Tage, eben wie im echten Leben. Vor der Lokalkulisse Hamburgs erzählt Autorin Lilo Hoffmann die Ereignisse zweier sehr verschiedener Mitbewohner – von denen eine das Modepüppchen werden wird – und die Erlebnisse der Hauptperson Iris. Deren Freund Alex war am Anfang ganz hinreißend und ist nun eher ins Vage abgedriftet, bevor er sie mit einer nicht vorhersehbaren Lebenswendung überraschen wird. Neben Modepüppchen Dana, ihres Zeichens Radiomoderatorin und mit schrägen Typen bekannt, kommt Iris sich manchmal wenig hip vor, bis sie herausfindet, dass da auch nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Eierlikör-Tradition ihrer Großmutter bildet eine stabilisierende Konstante für Iris und erfreut die Leserin gleichermaßen. So treibt das Leben Iris in diverse lustige und weniger lustige Situationen, es geht um Abschiede und (neue) Freundschaften, um dumme und schöne Zufälle. Iris gibt sich keine Mühe, die hippe Großstädterin zu geben, sondern schaut mit sympathischer Verwunderung und vielleicht ein wenig heimlicher Verehrung Danas Treiben zu. Sie verbiegt sich nicht, sondern bleibt sich treu und verweigert sich auch mal, wenn es ihr zu bunt wird. Ich habe dieses Buch gern gelesen, mit Iris mitgefiebert und ihr das Beste gewünscht, das sie meiner Meinung nach unbedingt verdient hat. Eine wunderbare Lektüre zur Entspannung, vielleicht mit einer Tasse Kaffee – oder einem Eierlikör.

 

Lilo Hoffmann: Wenn das Chaos perfekt ist
Verlag Tinte & Feder, 2020, 283 Seiten
Taschenbuch und E-Book

Eine nicht eben unfrohe Botschaft

Peter Rühmkorf spricht bei Künstler für den Frieden im St. Pauli-Stadion, Hamburg, 1983, Foto Helga Kneidl, DLA Marbach

Vor fast genau 21 Jahren lernte die Verfasserin dieser Zeilen – noch mitten im Studium und ersten lyrischen Versuchen zaghaft Raum gebend – den großen, ihr jedoch unbekannten Peter Rühmkorf auf einem Literaturseminar im Hause Kempowski kennen. Der  schlaksige Autor saß mit einer Zigarette und einem Glas Wein an einem kleinen, runden Tisch auf der Empore im Spiegelsaal und hob an, aus seinen Gedichten zu lesen; ein rhythmischer, musikalischer Vortrag aus einem Guss, mit Humor und Tiefe, manches Lachen blieb im Halse stecken. Der Klang seiner Verse in dem ihm eigenen Hamburger Slang und mit der leicht angerauhten Stimme zog in Bann, auch die kniffligen Reime fielen auf, noch lange vor der dann folgenden Analyse der Texte auf dem Papier. Die nahm natürlich nicht Peter Rühmkorf vor – der hatte anderes zu tun mit den ganzen Damen, die ihn in den nächsten Stunden umringten. Hausherr Walter Kempowski zog sich bald ins Schlafgemach zurück, während die Heldenverehrung in der so genannten Lotterecke bis tief in die Nacht weiterging – bis wann genau und wie sie endete, wer weiß?

Grappa in Ottensen

Jedenfalls ergab sich Gelegenheit, dem berühmten Poeten, der gar nicht so weit entfernt von der aufstrebenden Lyrikerin wohnte, einige Bücher abzukaufen und sogar ihm wiederum mit klopfendem Herzen und leicht hibbeliger Hand ein Lyrikmanuskript zu überreichen, ihm tatsächlich das Versprechen abzuringen, das Gedichtete zu lesen und zu kommentieren. Seine Widmung im Buch „Außer der Liebe nichts“ lautete: „auf einen Grappa in Ottensen“. Leider kam es nie dazu. Man reiste zurück nach Hamburg, jeder in seine Ottensener Stube, und es verging die schweigende Zeit. Doch dann, als damit kaum noch gerechnet werden konnte, kam ein mit Schreibmaschine getippter Brief mit dem Absender Övelgönne 50. Jedes kleine o war ein Loch im Papier und die großen Buchstaben hopsten nach oben aus der Reihe. Dieser Brief war frech! Es war von „klavieren hier und da“ die Rede und davon, dass es an noch der eigenen, unverkennbaren Stimme fehle. Aber: Vereinzelt anerkennende Bemerkungen, in Witzigkeit gekleidet das Ganze, und am Ende dann doch unglaublich motivierend. Das Klavieren kann man doch nicht auf sich sitzen lassen! Insgesamt war es, gleichsam im Sound seiner Gedichte, eine nicht unfrohe Botschaft. Aber Grappa trinken wollte ich mit dem nicht mehr. Jetzt musste ich erst mal schreiben, schreiben, schreiben …

Laß leuchten! – völlig neues Konzept einer Ausstellung
Foto: SHMH

Es gab keine weitere Begegnung zwischen uns. Aber die Lektüre und Analyse seiner Gedichte, das wiederholte Anhören seiner Lesung auf CD und natürlich dieser freche Brief, das alles hat mein Schreiben und mich geprägt und vorangebracht. Eine Weile nun standen die Bücher im Regal, bis im letzten Jahr die Einladung von der Stiftung Historische Museen Hamburg kam. Diese Ausstellung ist rundum ein Meisterwerk. Die Modernität, die Rühmkorfs Gedichte unter anderem ausmacht, hat das Altonaer Museum zusammen mit der Arno Schmidt Stiftung in Präsentation umgesetzt. Rühmkorf war mit seiner Poetik immer einen Schritt voraus.

Foto: SHMH

Dem Konzeptteam ist es mit digitalen Medien, Bild und Ton, eingebettet in einen wunderbar gestalteten Raum mit Teppich und Mini-Sofas, ebenfalls gelungen. So etwas gab es noch nie. Die Ausstellung beginnt mit dem Werk, dahinter steht der Mensch, also folgen nach den Gedichten und den Installationen, die Besucher zum Mitmachen animieren, erst die Räume mit Rühmkorfs Lebensdaten. Imposant der Turm aus Archivkisten, den Rühmkorf dem Deutschen Literaturarchiv Marbach vermacht hat. Sehr viele Aspekte und Stationen seines literarischen, politischen und persönlichen Lebens werden beleuchtet. Man hätte etwas mehr über Eva Rühmkorf und das gemeinsame Wirken und Leben erfahren können. Am Ende erwartet die Besucher ein in Dauerschleife laufender Film aus der „Lyrik & Jazz“-Produktion. Auch da war Rühmkorf wegweisend.

Ins Gästebuch hat jemand geschrieben, dass die Ausstellung der Werke des Fotografen Fide Struck der Rühmkorf-Ausstellung nicht ebenbürtig sei, was bedauert würde. Aber diese Ausstellung, die von der Arno Schmidt Stiftung mitfinanziert wurde, zeigt eben, was möglich wäre, wenn Museen ein anständiges Budget hätten, statt mit immer mehr Einsparmaßnahmen konfrontiert zu sein. Das sollte doch nachdenklich stimmen und mehr Menschen animieren, die Freundeskreise der Museen zu unterstützen.

Einzigartige Dichtung
Ausschnitt Buchcover „wenn – aber dann“, Rowohlt 1999

Peter Rühmkorf hat mit seiner Art zu dichten die Lyrikwelt geprägt. Die Mischung aus Eloquenz und Schnoddrigkeit, mit der er die großen Themen des Seins und Vergehens bearbeitete; das Reimen über verschiedene Sprachen hinweg, die Musikalität seiner Gedichte – all das wirkt über seine Lebenszeit weit hinaus. Für die Lyriker hat er diverse Einblicke in seine Arbeitsweise hinterlassen, die spannend und inspirierend sind. Denn er, dessen Poeme so leichtklingend daherkamen, hat an jeder Silbe strengstens gefeilt.

Leider dauert die Ausstellung nur noch bis zum 20. Juli. Es lohnt sich, sie noch anzusehen, und es lohnt sich sehr, Rühmkorf zu lesen.


Altonaer Museum Stiftung Historische Museen Hamburg
Museumstraße 23
22765 Hamburg
Tel. 040 428 131 171
www.shmh.de

Öffnungszeiten:
Montag 10 – 17 Uhr / dienstags geschlossen / Mittwoch bis Freitag 10 – 17 Uhr
Samstag bis Sonntag 10 – 18 Uhr
Eintrittspreise:
8,50 Euro / ermäßigt 5 Euro / freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren

Kampfplatz Stadtpark

Hamburg Barmbek und Umgebung in Trümmern (Archiv: Cropp)

Im Juni waren Ritterspiele angesagt: König Artus in Mitten seiner Tafelrunde. Zumindest Prinz Eisenherz wollte jeder sein. Vorher wurde Cowboy und Indianer gespielt. Meist kämpften dann General Custer gegen Sitting Bull. Im April war „Kippel Kappel“ dran, dabei wurden regelmäßig mehrere Fensterscheiben in der Neuen Wöhr und dem Albers-Schönberg-Weg zerschlagen. Eigentlich gingen gar nicht so viele Scheiben drauf, weil die meisten Straßen Barmbeks mit Ruinen umsäumt wurden.

Ruinen waren der spannendste Spielplatz. Ein Spielplatz, den uns Eltern und Lehrer der Schule Fraenkelstraße fast täglich aufs Neue verboten haben. Natürlich hielten wir uns nicht an die Mahnung. Doch zur Not hatten wir immerhin noch den Stadtpark, um uns auszutoben. Wir, das war eine Gang von 15 „Blutsbrüdern“, was den eingeschworenen Haufen nicht hinderte, sich bisweilen auch mal untereinander ordentlich zu zoffen. Die Gang stammte aus meiner Straße, dem Albers-Schönberg-Weg, der Neuen Wöhr und „harten Jungs“ aus den Nissenhütten und Baracken um den Theodor-Rumpel-Weg.

Hamburg Barmbek und Umgebung in Trümmern (Archiv: Cropp)

Wir Jungs aus dem erhaltenen viergeschossigen Block bewunderten die Barackler. Sie waren stärker, hart im Nehmen, schneller, hatten die besten Spielideen. Wären sie nicht in unserer Gang gewesen, wir hätten  die Straßenschlacht neulich gegen die Dennerstraße glatt verloren. Addi und sein kleiner Bruder Rolf kämpften, wie die meisten Barackler, barfuß, mit Pfeil und Bogen, und Katapulten, die besser und weiter schossen als unsere. Sie luden die Schleudern gleich mit Steinen, während wir mit Erbsen schossen. Als Karl, dem Anführer der Dennerstraße, ein Auge ausgeschossen wurde, mischte sich die Polizei ein. Aber wir hatten gewonnen und zogen wie Helden durch die Gassen, respektiert und geachtet. Weder auf dem Schulhof noch auf den abendlich-dunklen Straßen trauten sich gegnerische Jungs uns anzugreifen.

In Barmbek herrschte im Juni 1951 gespenstische Ruhe. Unsere Gang suchte das Abenteuer mal wieder in den Trümmern. Dort machten die Barackler die tiefsten und geheimnisvollsten Verstecke aus … Als Georg, mein rechter Banknachbar in der 5 B, wegblieb und am nächsten Tag Paul, machten uns die Spiele in den Ruinen doch Angst. Georg und Paul waren unter den Trümmern begraben worden. Mein bester Freund Paul, mit dem ich nach der Schule am Stadtparksee Ringkämpfe austrug, weil wir das stärkste Team sein wollten, war jetzt tot! 

Ein toller Spielplatz!
Stadtpark in der Rhododendronblüte (Foto: Cropp)

Addi bestimmte, die Ritterspiele zu verlegen. Und zwar in den Stadtpark. Dorthin, wo die Rhododendren am dichtesten standen. Ich war, zwar in Hamburg geboren, erst vor einem Jahr mit meinen Eltern aus Wenzendorf vom Land in die Stadt gezogen. In unserem Dorf gab ich bei den Jungs den Ton an, und es gefiel mir ganz und gar nicht, dass Addi uns herumkommandierte, auch wenn er der Boss war. Alle folgten ihm. Missmutig trottete ich mit. Bewaffnet mit Schildern aus Türblättern oder breiten Dachlatten und Schwertern, spitz und scharf geschnitzte Besenstiele, im Hosenbund Holzdolche, so zogen wir die Alte Wöhr hinunter, am S-Bahnhof  Stadtpark vorbei, zum Park. Erwachsene schüttelten entgeistert die Köpfe. Was heckten die Gassenjungs Barmbeks denn da schon wieder aus?

Blick auf das Planetarium, Stadtpark Hamburg (Foto: Cropp)

An der Saalandstraße begann der Stadtpark. Unweit davon, am Wasserturm (dem heutigen Planetarium), standen die großen, dichten Rhododendren in prächtiger Blüte, weiß und rot. Vor dem Blätterwald machten wir halt, schauten uns verstohlen um. Auf ein Zeichen von Addi schlüpften wir ins Dickicht wie Füchse in den Hühnerstall. Der Rhododendrenwald umschloss uns wie ein mächtiger, schummrig-grüner Dom. Natürlich war es verboten in den Rhododendren herumzutoben. Doch wir wollten nicht toben, wir wollten als König Artus Ritter die Feinde aus Thule verjagen. Jetzt musste ich Addi Recht geben, in den Rhodos des Stadtparks konnte man Thule am besten verteidigen! Erst einmal schwärmten wir aus und erkundeten zwei geeignete Bäume. Einen als Burg Camelot für die Ritter um Artus und Prinz Eisenherz. Einen als Lager für die Feinde. Ein Rhodobaum mit oberschenkeldicken Stämmen, in tief roter Blüte, wurde die Burg König Artus. Addi ließ zwischen die Äste eine Wolldecke spannen und hockte sich auf seinen Helm, einen weißen Nachttopf, den er seinem jüngsten Bruder weggenommen hatte.

„Hoffentlich ist euer Lager bald fertig!“ rief er in meine Richtung. Ärgerlich schaute ich zu ihm rüber, wie er da unter dem Baldachin saß und sich wie ein King aufführte, sich wahrscheinlich irre mächtig fühlte. Addi hatte sich mir nichts dir nichts zu König Artus erklärt, und mich mit sieben Jungs zu den bösen Hunnen. Das brachte mich auf die Palme!

 Auf in den Kampf

„Los, lasst uns diesen Busch als Lager nehmen, dann greifen wir an und schmeißen die Ritter aus der Burg“, machte ich meinen Freunden Mut. Der Rhodostrauch war etwas schüttern, und die mitgebrachte Pappe nur notdürftig als Dach zu befestigen. Als Feldlager der Hunnen, die anzugreifen hatten, reichte es allemal. Addis Ritter, immerhin acht „Recken“, hatten leichtsinnigerweise ihre Waffen abgelegt und sich zur Beratung um Artus geschart, als wir mit wildem Geheul aus dem Gestrüpp brachen und über die Gegner herfielen. Im Kampfgetümmel versuchten wir die Ritter umzuwerfen und mit dem Schwert auf die Brust gedrückt, in Schach zu halten. Bei Vieren gelang das auch. Sie lagen auf dem Rücken, wie umgeworfene Suppenschildkröten und jammerten. Addi hatte jetzt den Pisspott auf dem Kopf, Schwert und Schild am Körper und drosch wie ein Berserker auf zwei meiner Angreifer ein. 

Wenn Rhododendren weinen

Besenstiele krachten gegeneinander und barsten. Derbe Stöße wurden mit den Schildern abgewehrt. Schläge und Stöße prasselten schmerzhaft auf Arme und Oberkörper. Addi wurde der Helm weggeschlagen. Gerade bekam er einen Hieb auf den Kopf. Wir waren mitten im Schlachtengetümmel und es machte einen mords Spaß. Rechs und links flogen Blüten und kleine Äste durch die Luft. Dicke Äste knackten, wenn einer dagegen flog. Zartere Rhodos sahen bald aus wie gerupftes Federvieh. Einige der eben noch kampfunfähig liegenden Ritter hatten sich befreien können, aufgerappelt und warfen sich brüllend und fechtend auf meine kleine Horde wilder „Hunnen“. Besenstiele knallten gegeneinander, und es klang wie das „Singende Schwert“ von Prinz Eisenherz, der drei Gegner gleichzeitig abwehrte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Burg jetzt unbewacht war. Ich rief: „Peter!“ und zeigte nach rechts. Er kapierte sofort. Wir stürmten zur Burg, unter den Baldachin. Damit war die Tafelrunde eingenommen worden. „Gewonnen!“ stießen wir aus. Addi ließ vom Gegner Werner ab, und schlug zerknirscht einige Zweige nieder. Mit unserer so plötzlichen Einnahme hatte er nicht gerechnet. Keinesfalls wollte er sich geschlagen geben. „Revanche!“ keuchte er, „ihr müsst uns noch mal angreifen.“ „Nee, Addi, jetzt sind wir die Ritter. Ihr greift an,“ widersprach ich. „Was willst du? In die Burg? Ich bleibe König Arthus, klar!“ „Du bist und bleibst `n Arschloch!“ brüllte ich zurück. In aller Ruhe legte Addi jetzt Schwert und Schild aus der Hand und kam auf mich zu, cool wie Garry Cooper in High Noon. Den Film hatten wir uns erst gestern im Gloria Palast angesehen. Hernach fühlte sich jeder wie ein als Ritter verkleideter Revolverheld.

 Kräftemessen

Addis Augen waren kleine Schlitze und kalt wie die einer Otter. „Was bin ich?“ zischte er. Er war zwar nur wenig größer als ich, aber ein erprobter Schläger, der nicht lange fackelte. Seine Position in der Gang hatte er sich erkämpfen müssen. Der Knabe kannte n’e Menge Tricks. Klar, er durfte alle Comics lesen, die da so im Umlauf waren. Schundhefte, Tarzan, Tom Prox, Akim und viele mehr, die mir meine Eltern regelmäßig wegnahmen. Sie würden verderben, hieß es. Addi war die Lektüre ein theoretisches Rüstzeug, ein „Schatz“, der mir bitter fehlte. Einen Augenblick lang überlegte ich, ihm mein Schwert gegen die Brust zu stechen und den Schild auf den Kopf zu dreschen. Unfair, aber wirkungsvoll. Doch dann merkte ich: an diesem Nachmittag, im grünen Blätterwald der Rhododendren des Hamburger Stadtparks ging es um mehr, als ums Kräftemessen. Da bot sich eine Chance, an die Spitze zu gelangen. Den Angeber Addi Weiß ins zweite Glied zu klopfen. Und das musste auf faire Weise geschehen. Zumal seine beiden „Leibburschen“ sich sofort auf mich stürzen würden. Ich war allein. Mein Freund Paul in den ewigen Jagdgründen, und die anderen hatten, wenn es um den Boss ging, sowieso die Hosen voll.
„Sag’ das noch mal, Würstchen!“ drohte er jetzt dicht vor mir. „Affenarsch!“
Meine Größe und Statur sind nicht gerade furchteinflößend. Allein schnelles Handeln und rasches Zuschlagen hatten dem anfangs als dämlich eingestuften Dorfjungen einen respektablen Platz im oberen Drittel in der Hierarchie der Barmbeker Straßengang verschafft. Diese Position galt es in jedem Fall zu verteidigen! Ich ballte meine Fäuste, spannte die Muskeln, zielte auf sein Kinn. Da spürte ich seinen rechten Fuß hinter meinen Beinen. Ein kurzer, harter Stoß, ich lag auf dem Boden. Als ich mich aufrappelte, spürte ich einen schmerzhaften Schlag auf der Nase. Blut tropfte auf meinen neuen Pullover. Augen tränten. Ich hangelte mich an einem Rhodostamm nach oben und bekam einen zweiten Schlag aufs rechte Auge. Damit war ich außer Gefecht.

„Die Hunnen greifen wieder an – klar! Der Wolf kann  als Verwunderter im Lager rumliegen!“ höhnte Addi triumphierend. Ich kroch in unser Feldlager und versuchte die blutende Nase zu stillen. Schon tobten zwischen Büschen und Bäumen die Verteidigungs- und Eroberungskämpfe in aller Heftigkeit. Blüten flogen umher wie Daunen aus einer aufgerissenen Bettdecke von Frau Holle.

Ordnungshüter

Plötzlich rief jemand: „Uddels!“
Im Nu war der Kampfplatz verwaist. Ein Polizist rannte Addi hinterher – ergebnislos. Dabei flog ihm der Tschako vom Schädel. Ein anderer baute sich über mir auf. „Na Bürschchen, dich nehmen wir jetzt mal mit auf die Wache!“ Werner krabbelte aus seinem Buschversteck und stellte sich zu mir. Wenigstens einer, der mir beistand.
„Ah, da haben wir ja noch einen Übeltäter!“ Im nächsten Moment wurde Werner am Kragen gepackt und festgehalten. Der Schupo, der Addi nicht fassen konnte, packte nun mich am Schlafittchen und stellte mich auf die Beine. Dass meine Nase heftig blutete, kümmerte den Polizisten nicht, lediglich, dass seine feine, dunkelblaue Uniform durch Blut verfleckt wurde, machte ihn wütend, und so zerrte er mich barsch aus den Rhododendren, die Alte Wöhr hinauf. Werner, ebenfalls im festen Polizeigriff, trabte ergeben vor mir her.

Auf der Wache gab`s n’e  ordentliche Standpauke vom Revierleiter, der schließlich auch unsere Namen und Adressen erfragte, was mir überhaupt nicht gefiel, da ich mir die Reaktion der Eltern verdammt gut ausmalen konnte. Nach einer Stunde hörten wir bekannte Stimmen. Werners und mein Vater waren, wie verabredet, eingetroffen, um uns in Empfang zu nehmen. Als wir aus dem Nebenraum, oder war es schon die Zelle? geführt wurden, lasteten böse Blicke auf uns. „Hier haben Sie Ihre Früchtchen!“ meinte der Revierleiter, „und passen Sie künftig besser auf sie auf. Die Rechnung über die zerstörten Rhododendren bekommen Sie von der Stadtparkverwaltung.“ Vater verabreichte mir eine deftige Ohrfeige. Das gefiel den Uddels, als erste erzieherische Maßnahme. Ob Werner auch eine einfing, weiß ich nicht. Er wurde gleich zum Ausgang gezerrt.

Ob die Eltern wirklich eine Rechnung von der Parkverwaltung bekommen haben und wenn, wie hoch diese ausfiel? Ich habe es auch nie erfahren. War mir auch wurscht. Schlimm war, dass ich 14 Tage Hausarrest bekam. Der einzige Trost daran war, dass mein blaues Auge kaum beachtet, abklingen konnte. Mit dem musste ich mich zwar in der Schule zeigen, Gott sei Dank aber nicht bei meiner Gang. Addi hätte mich damit mächtig aufgezogen.

 

Mit „Kampfplatz Stadtpark“ erinnert sich der Autor an seine spannende, aber bisweilen auch raue Kindheit (zehnjährig) nach dem Krieg in Barmbek, am östlichen Rand des Hamburger Stadtparks.