Hommage: Über die Kurzprosa von Johanna Renate Wöhlke

von Dr. László Kova

Johanna Renate Wöhlke bei der Internationalen Gartenschau 2013 in Wilhelmsburg

Eines Tages besuchte ich gerade eine renommierte Galerie in der Stadtmitte Hamburg, um dort anlässlich einer Vernissage nach spannenden Bildern für meine neue Wohnung zu suchen. Ich tat das natürlich nur als witziges Spiel, da ich als Maler ausreichend Bilder habe. Die Ausstellung, die mir übrigens gar nicht gefiel, sah ich mir lustlos an. Plötzlich drückte mir eine hübsche Hostess ein Glas Sekt in die Hand und begleitete mich in einen Raum, in dem schon viele Menschen auf einer breiten Edelholztreppe saßen  und auf den Beginn des Erzählabends einer Studentin warteten, die sichtlich aus der fernen arabischen Welt stammte.

Märchen für mich?  Nein!, sagte ich mir, aber der Rückweg war hinter mir schon versperrt. Und sie fing eben mit ihrer Vorführung an. Sie erzählte keine Märchen. Aber auch keine Wahrheiten. Sie erzählte Geschichten, die sie in ihrer Kindheit von ihrer Großmutter und von alten, ehrwürdigen Dorffrauen gehört hatte, die sie an warmen Abenden vor den Hütten im Sand sitzend den Familienmitgliedern und gelegentlichen Zuhörern vortrugen. Diese Geschichten sind nicht aufgeschrieben, sie werden in Tausenden von Variationen immer wieder erzählt, sie haben keinen Anfang und kein Ende, sie gehen ineinander über, sie schweben und fließen, sie reißen die Hörerschaft mit. Der Zuhörer fühlt die eigene Person ins Geschehen hineingezogen, man ist mitten drin, man verliert das Raum- und Zeitgefühl, man hört nicht nur zu, man handelt im Geschehen mit, man glaubt, dass alles in diesem Moment passiert.

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